Hubertus Giebe (c) Rudolf Hartmetz
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12.02.2021
Hubertus Giebe

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Hubertus Giebe

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Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …

Eine Lesebiografie zu schreiben wäre ein weit ausholendes Unterfangen, mit dem Lesenlernen in der Kindheit beginnend. Ich müsste von einem umfangreichen Erinnerungskonvolut an Büchern erzählen, die mich seit früher Zeit begleiteten. Geboren 1953, verbrachte ich meine Kindheit in Schlottwitz, einem Dorf im Müglitztal, heute zur Uhrenstadt Glashütte gehörend. Mein Vater war ein Maschinenbau-Ingenieur, Jahrgang 1920, der eine kleine Bibliothek über die Zeiten, den Krieg gerettet hatte. Als junger Mann war er ein Nietzsche-Anhänger gewesen, besonders den Zarathustra liebte er, aber auch die Unzeitgemäßen Betrachtungen. Die alten Ausgaben aus dem Alfred Kröner Verlag Leipzig (die »Kriegsausgabe« von 1918 und Kröners Taschenbuch, Band 71 der Betrachtungen) fanden sich im Bücherschrank – neben alten Ausgaben von Goethe (auf Dünndruckpapier von Breitkopf & Härtel), Heine, Thomas Mann und Tucholsky.

Aber mein erstes Lieblingsbuch, das mir eine Tante zum Geburtstag im November 1962 schenkte, waren Tom Sawyers Abenteuer von Mark Twain, in jenem Jahr im Aufbau-Verlag Berlin erschienen. Das las und liebte ich sofort, und es stiftete mich und meine Nachbarfreunde im Dorf sogleich an, ähnliche wilde Abenteuer zu beginnen. Bald folgten der Robinson und Erich Kästners Emil und die Detektive.

Das nur als kleines Entree. Ich will nicht allzu weit abschweifen von jenen sechs genannten Büchern, die mir später besonders nah und prägend wurden. Natürlich – ich bin Maler und wollte das schon früh werden – spielen hier Kunstgeschichte und Kunstbände eine wesentliche Rolle. Noch als Internatsschüler einer Erweiterten Oberschule im erzgebirgischen Altenberg las ich die Briefe von van Gogh, die wunderbare Ausgabe, die Fritz Erpel 1965 im Henschelverlag Kunst und Gesellschaft Berlin herausgab. Ein Deutschlehrer und Kunsterzieher der Schule, der meine Leidenschaft für Malerei förderte, lieh sie mir. Für jemand, der Künstler werden wollte, eine Offenbarung!

Noch nicht sechzehn Jahre, kam ich nach Dresden. Ich wechselte die Schule, um die Abendakademie der Dresdner Hochschule für Bildende Künste besuchen zu können und kam bei einer alten Wirtin auf der Frühlingsstraße in der alten Dresdner Neustadt unter, mit eigenem Zwölfquadratmeterzimmer. Bald gingen meine jungen Malerfreunde von der Abendschule bei mir ein und aus. Es wurde gezeichnet, fast manisch gelesen – und ich frequentierte alsbald die erreichbaren Antiquariate in der Nähe, etwa »Dienemann« am Neustädter Bahnhof und das »Neustädter Antiquariat« auf der Bautzner Straße/Ecke Rothenburger Straße. Das war alles schnell erreichbar von meiner Untermieterwohnhöhle im vierten Stock unterm Dach. Man kannte mich bald, da ich Stunden vor den Regalen verbrachte und nach allem Möglichen frug, von Kunst zu Lyrik, Romanen, Ästhetik, Philosophie. Alte Kunstbücher, für ein paar Mark und Literatur der 20er Jahre war da zu finden, wenn man sie finden wollte.

Ich erinnere die Künstlermonographien von Knackfuß (Velhagen & Klasing), wunderbar aufgemacht, mit reichen Abbildungen in Schwarzweiß, etwa Van Dyck (Ausgabe von 1896), Correggio (1898), Rembrandt, Raffael, Rubens, Murillo, Michelangelo (alle noch vor 1900 ediert), dann Liebermann (1900) oder Böcklin (1909). Sie kosteten 4 bis 5 DDR-Mark, das konnte man sich leisten (kleine Hilfsarbeiten und Nebenjobs in der Stadt waren die Regel).

Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts

Ein erster, wesentlicher Fund für mich war hier Carl Einsteins Die Kunst des 20. Jahrhunderts. Propyläen-Kunstgeschichte Band XVI (Berlin 1926). Ein reich bebildertes Standardwerk zur klassischen Moderne, mit glänzenden kunsthistorischen Texten und Werkanalysen etwa zu Picasso und Matisse, Braque und Derain, zu Klee, Kokoschka, Grosz, Dix und Beckmann, aber auch zu den Konstruktivisten, zu Chagall und Kandinsky und vielen anderen großen Namen der frühen Avantgarde. Hier waren sie alle versammelt, die Meister, die man liebte und die man sich »erobern« wollte – wonach ich und meine Freunde gierten in jenen Jahren. Dazu kam, diese Welt der klassischen Moderne war in der DDR damals kaum im öffentlichen Bewusstsein gegenwärtig. Den Band mit goldgeprägtem Leinenrücken und dem klassischen Oval der Initialen des Verlages auf dem graugrünen Außeneinband habe ich über 50 Jahre gehütet – bis heute! Ein Meilenstein moderner ästhetischer Reflexion: Carl Einstein beginnt seine Vorbesprechungen so: »Einmal musste der zu lang aufgesattelte Schönheitsbetrieb, der in den Bezirken feiger, professoraler Malerei abgenutzt war, vor anderen oder verborgenen Erfahrungen und Erlebnissen niederbrechen, da diese in ererbte Schemen nicht mehr einzuordnen waren. Die klassizistische Bildordnung und die malerischen Mittel waren längst verbraucht und übermüdet. […] Das Heroentum aus moralischer Pappe, die staatlich geschützten Zeichenformeln werden auf dem Theaterspeicher verstaut.« Einstein ging von Analysen der großen alten Meister, über Degas, van Gogh, Renoir, Cézanne zu den Koryphäen seiner Generation hin, die selbst noch sehr ungesichert waren. Sein großer Maler des jungen Jahrhunderts war Picasso, damals noch keine 45 Jahre alt, ebenso bewundert wie umstritten. Sein »Kubismus« war neu und radikal, aber aus der abendländischen Malertradition genial entwickelt.

Er vermittelte, und das gilt auch in den uferlosen »Kunst-Mega-Diskursen« von heute (schon Nietzsche schrieb einst: »Der Kreis des sinnlos zum Bild gewordenen wird immer voller«): »Kunst ist Sprache«, ist ein Alphabet, »Schönheit eine elementare Verbindung des Einzelnen mit der Schöpfung“ (Camus). Er untersuchte Persönlichkeit und ihren »Stil«, die Psychologie der Zeit, die einwirkte, Gegenwart, aus der »Stil« erwächst, das »substanzhaft Dauernde«, die »gültige Gestaltstufe des eigentlichen künstlerischen Bildes«.

Um den Bogen zu Jean Clair (geb. 1949, französischer Kunsthistoriker und langjähriger Direktor des Pariser Picasso-Museums) zu schlagen, sei noch auf Wilhelm Hausensteins großen Traktat Der Körper des Menschen in der Geschichte der Kunst (Verlag Piper & Co, München 1916) und die kulturhistorischen Schriften des Italieners Benedetto Croce verwiesen, die (alle einst antiquarisch erworben) mir wesentlich wurden. Nach Croce gibt es tatsächlich keine Erkenntnis, »die sich nicht auch adäquat ausdrücken ließe, […] so dass man vom Fehlen des Ausdrucks mit absoluter Sicherheit auch auf das Fehlen der Erkenntnis schließen kann«. Für Schopenhauer bestand ein guter Stil darin, »daß man etwas zu sagen habe.«

Jean Clair: Avantgarde zwischen Terror und Vernunft

Jean Clairs Avantgarde zwischen Terror und Vernunft (dt. bei DuMont, Köln 1998) ist mir eine der heute prägenden kulturhistorischen und ästhetischen Auseinandersetzungen, ganz im Sinne von Carl Einstein, die die Pathologien eines nun postmodernen Avantgarde-Katechismus aufzeigt, nicht zuletzt an Beispielen der Kasseler documenta. (Peter Sloterdijk klassifizierte dieses Krisenszenario heutigen Werterelativismus in der bildenden Kunst – und weit darüber hinaus – einmal so: 1. Innovationsdogma und Originalitätsstreß, 2. Interpretenherrschaft, 3. hermeneutischer Moralismus, 4. Ästhetische Ausbeutung der Psychosen.)

Die Biennalen, Gegenwartsmuseen und aktuellen Kunstmessen sind voll davon, und dieses teilweise dogmatische, ja niederschmetternde Erscheinungsbild betrifft mich als Maler (der sich als solcher in einer Tradition versteht) direkt. Eine verödete Semantik zeigt natürlich tieferliegende Risse, die Fragilität, das kompilierende Selbstverständnis der westlichen »Weltkunst« einer Postmoderne, wie – historisch – aller einstigen Diktaturen des XX. Jahrhunderts. Die »Kardinaltugenden« (seit antikem Selbstverständnis): Gerechtigkeit, Weisheit, Stärke, Mäßigung – scheinen auf dem »Schwarzmarkt der Macht« (ein Wort von Walter Benjamin) ebenso düpiert wie etwa Peter Weiss‘ Ästhetik des Widerstands (ab 1975 bei Suhrkamp Frankfurt/Main ediert) – auch ein mich über Jahre gefangennehmendes Werk – heute nahezu vergessen.

In seiner weitausholenden Studie zum »Zeitgeist« heutiger Moderne schrieb Clair etwa zur documenta (und der weltweiten Hybris solcher Massenevents): »Die Eröffnung der 10. documenta in Kassel im Sommer 1997, die eine letzte Weihe der Moderne sein sollte, hat selbst nach Meinung ihrer glühendsten Verteidiger den Umfang des Desasters enthüllt. Die Inhaltsleere, die Vulgarität und Dümmlichkeit der meisten Ausstellungsobjekte waren weniger schockierend als der Begriffsapparat im Katalog, der ihre Anwesenheit rechtfertigen sollte. Die Rückkehr zu den altbackensten ideologischen Gemeinplätzen der Meisterdenker von Ende der sechziger Jahre verriet mehr als Verwirrung.« Erinnert sei hier noch an Hans Sedlmayrs »Kunst, Nichtkunst, Antikunst« (1976, Die Revolution der modernen Kunst, DuMont, Köln).

Sibylle Lewitscharoff: Von oben

Hier wäre nun ein Zirkelschlag gleich zu meiner aktuellen literarischen Favoritin Sibylle Lewitscharoff (geb. 1954) zu schlagen und ihrem letzten Roman Von oben (Suhrkamp Verlag Berlin, 2019), bevor ich zu meinen modernen Klassikern Albert Camus, Pierre Michon und den Jahrhunderte überragenden (und überdauernden) Essais von Michel de Montaigne (1533–1592) komme.

Sibylle Lewitscharoff schrieb schon 1998 mit PONG (Bloomsbury Verlag, London, Berlin) ein wild-anarchisches, ebenso erhellendes Romanfragment wie einst Carl Einstein 1912 mit seinem Bebuquin. »Ein Urknall des Absurden hat Pong in die Welt geworfen«; ein Kritiker nannte dieses literarische Autodafé und virtuose Gesellschaft-Menetekel einen »abgründigen literarischen Spaß, der mit größter Präzision und Geschicklichkeit ein Feuerwerk des Absurden errichtet.« Das tut (nach ihrem Apostoloff, 2009, Blumenberg, 2011 oder dem Pfingstwunder, 2016) auch ihr neuester Roman Von oben, der ein wilder, imaginativer Ritt durch Welt, Zeit und Geschichte »vor dem Tod, nach dem Tod« ist. Voller Militanz und Poesie, abgründig und alle Philosophie und religiösen Servilismus hinterfragend, ist das furiose Werk letztlich manisch auf der Suche nach sich selbst – wie Montaigne vor 500 Jahren: »Zack! ist alles scharfgestellt!«

Nichts ist ihr fremd oder zu gering, nicht »das All« und die Kabbalisten, nicht das »mißmutige Nagen am Gebiß?« oder »Beauty Queen« von Roxy Musik. Und alle »obskuren Flugmanöver« des Denkens, Kafka, Ernst Jandl, Jean Paul oder Heidegger und »Peterchens Mondfahrt« und alle Seelenpein fächeln ihr ihre »Luftohren« zu. Es ist ein großer Spaß des Fabulierens, manchmal des intelligenten Klamauks. Und die heutigen Engelsstürze können einen erbleichen lassen, »Je n`ai rien négligé«: »Uns verband viel. Gerhard und ich hatten drei Feinde: die Soziologie, in der auf bürokratische Weise immer mehr von der Gesellschaft gefaselt wurde, die Kommunikationswissenschaft und die Gender Studies. Dem entsprechend zeigte sich die Trias der Dummheit im häufigen Gebrauch der Wörter Gesellschaft, Kommunikation und Gender. Alles, was wir verachten, war darin enthalten – der Ruin des freiheitlichen Denkens, die Verzwergung des Menschen unter der Fuchtel eines wichtigtuerischen Plapperlapapp.«

Pierre Michon: Leben der kleinen Toten

Pierre Michon (geb. 1945) ist ein Klassiker der französischen Gegenwartsliteratur (wie, für mich, Gaston Bachelard, Julien Gracq oder Francis Ponge, um nur drei weitere Namen zu nennen). Sein Erstling Leben der kleinen Toten (1984, Editions Gallimard, Paris) ist, wie später Die Grande Beune, eine große Hommage an die Welt der »kleinen Leute«, voller Poesie und Weisheit, einer Hemisphäre des elementaren, irdischen Lebens, der Größe auch niedergedrücktesten Daseins, einer poetischen Achtsamkeit, der tiefen solitude aller Existenz. Leben werden erzählt mit aller sinnlichen Wortmacht, die Wirklichkeit und Traum füllen können. Die Helden in den Hortus Conclusus heißen Claudette, die Brüder Bakroot, Antoine Peluchet, die Allmacht des Irdischen, Zeiten und Schicksale mischen sich im dichten Erinnern voller Empathie: »Über Saint-Gousaud weht der Wind, die Welt ist gewalttätig, gewiß. Aber wieviel Gewalt hat sie nicht erfahren? Die Farne verdecken die kranke Erde; schlechter Weizen wächst in ihr, blödsinnige Geschichten, zersprungene Familien; aus dem Wind taucht die Sonne hervor wie eine Riesin, wie eine Verrückte. Dann erlischt sie, wie die Familie Peluchet erloschen ist: so heißt es, wenn der Name aufhört, auf Lebende zu passen.«

Albert Camus: Der erste Mensch

Albert Camus war mir immer – und ist es bis heute – ein Leitbild großer Literatur und wesentlichen philosophischen Denkens. Ob nun Der Mythos des Sisyphos oder Der Mensch in der Revolte, die Hochzeit des Lichts. Heimkehr nach Tipasa, sein Schreiben verkörpert mir »Le coeur innombrable«, ein reiches Herz, Weltweite. Der erste Mensch (dt. 1997 bei Reinbek, Hamburg), nachgelassenes Romanfragment seiner Autobiographie, an dem er bis zu seinem frühen Unfalltod arbeitete, edierte erst seine Tochter Catherine. Camus erzählt seine algerische Kindheit in großer Armut, und er schildert den unstillbaren Drang des Jungen nach Wissen – was mich tief berührt. Am Beginn der 144 Manuskriptseiten steht »die Suche nach dem Vater«, und eine große Verehrung der Mutter, einer in Gewissenhaftigkeit und Würde lebenden armen Frau, die nicht lesen konnte. Sie war Camus‘ lebenslang oberste moralische Instanz: »… und lächelte ihren Sohn mit ihrem schönen, tapferen Lächeln an.«

Dieses Leben am Rande des Sahel, die Jagdausflüge mit dem Onkel und seinen Arbeitskameraden in die Wälder, in denen der »frische Geruch der Feigen hing«, ihre Boxkämpfe, das Meer, die rasch hereinbrechende afrikanische Dämmerung, das alles war eine farbige, dichte, reiche Welt, in die dem Jungen bald die Bücher und das Wissen unwiderstehlich hereinbrachen, ihn anzogen und zur Dichtung führten, diesem »seltsamen, mächtigen Gefühl, das im Laufe der Wochen, der Monate und Jahre […] ein ganzes Universum von Bildern und Erinnerungen entstehen ließ, die nicht zurückführbar waren auf die Realität, in der sie täglich lebten, aber mit Sicherheit nicht weniger präsent für diese leidenschaftlichen Kinder, die ihre Träume genauso ungestüm erlebten wie ihr Leben«, schrieb er.

Sehr viele Bücher müsste ich noch erwähnen, die mir wichtig waren und sind, die prägend, sinnstiftend, wesentlich waren. Nur an neuerer Literatur will ich hier Rilke, Benn, Malaparte, Ossip und Nadeschda Mandelstam und Das Jahrhundert der Wölfe, Warlam Schalamow, Joseph Brodsky nennen; dazu Sebastian Haffner und Arthur Koestlers und Günter Grass‘ Jahrhundertromane Sonnenfinsternis und Die Blechtrommel – und Strittmatters Wundertäter, die Texte von Wolfgang Hilbig. Gottfried Benn schrieb: »Kunst ist ein zentraler und primärer Impuls.«

Michel de Montaigne: Die Essais

All ihre Stimmen und Einsichten scheinen mir in Montaignes Essais versammelt, früh verkörpert. Ich weiß nicht mehr, wann mich die Essais erreichten, vielleicht mit zwanzig Jahren in der Dünndruckausgabe der Dieterich`schen Verlagsbuchhandlung zu Leipzig von 1953. Diese 400 Seiten, alle Jahrzehnte neu gelesen, mit neuen Augen – blieben mir unerschöpflicher Lebensbegleiter. Montaigne, der Anti-Machiavelli: seine Selbsterkundung ist universell, wie die großen Unternehmungen von Mark Aurel, Plutarch, Quintilian und Sokrates: »Je nachdem man kann…«, Sokrates‘ einsichtsvolles Wort! Auf ihnen allen stehen wiederum die Essais von Montaigne, der schrieb: »Der Menschengeist hat keinen Halt, wenn er sich in der Unbegrenztheit gestaltloser Gedanken bewegt: er muss sie zu bestimmten Bildern verdichten, die seiner Welt entnommen sind.«

Also, auch Literatur hat mich mächtig beflügelt, Maler zu werden.

Mit Camus will ich diese kleine »Lesebiographie« enden, mit seinem späten Begriff der »Némesis«: »Wie eine Welt zu bestellen, aber auch hinnehmend zu akzeptieren wäre, die im Widerstand zur Hybris die Früchte eines glücklichen Lebens in den Unvollkommenheiten zurückbringt.«

 

Letzten Monat lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von Axel Helbig.

 

Hubertus Giebe (geb. 1953) absolvierte parallel zum Abitur von 1969-72 ein Abendstudium der Malerei und Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. 1974-1976 Studium Malerei und Grafik an der HfBK. Exmatrikulation auf eigenen Wunsch wegen Gängelung und künstlerisch empfundener Enge. 1978 Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, externes Diplom und Meisterschüler bei Bernhard Heisig. 1979-1991 Lehrtätigkeit an der HfBK Dresden als Assistent im künstlerischem Grundlagenstudium und ab 1987 als Dozent einer Fachklasse für Malerei und Grafik. In dieser Zeit entstehen zahlreiche Editionen und grafische Mappenwerke zu moderner Lyrik und Prosa (u. a. zu Strittmatter, Heiner Müller, Grass’ »Blechtrommel« und modernen Klassikern wie Rilke, Trakl, Benn, Brecht, Pessoa, Mandelstam). 1989 Rede auf der Demonstration der Dresdner Künstlerverbände für Meinungsfreiheit, Demokratie und politischen Wandel am 19. November. Giebe engagiert sich für das Neue Forum. 1988 vierzig Radierungen für eine von Günter Grass angeregte bibliophile Verlagsausgabe seiner »Blechtrommel«, die Anfang 1991 im Berliner Verlag Volk und Welt erscheint. Neben zahlreichen anderen Preisen erhält er 2007 den renommierten Wilhelm-Morgner-Preis für Malerei. 2004 Vertretungsprofessur für Malerei an der Universität Dortmund. 2010 erscheint im Leipziger Literaturverlag der Essayband »Der geschliffene Elfenbeinturm« und 2015 ediert das Archiv Bildende Kunst der Akademie der Künste Berlin (»Archiv-Blätter 23«) den Band »Hubertus Giebe. Malen ist Denken in Bildern, am Rande der Sprache«, basierend auf seiner Schenkung an die AdK von 56 Tagebüchern, vielen Manuskripten und einer umfänglichen über 40jährigen Korrespondenz mit zahlreichen befreundeten Künstlern, Kunsthistorikern, Intellektuellen und Schriftstellern, wie Eva und Erwin Strittmatter, Günter Grass und vielen anderen.  Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, Teilnahme an Wettbewerben und Kunstmessen in Köln, Basel, London, Chicago und Tokio, 1990 Einzelausstellung »Geschichtsbilder« auf der 44. Biennale in Venedig. Werke in vielen nationalen Museen und Sammlungen, u. a. Neue Nationalgalerie Berlin, Puschkin Museum Moskau, The British Museum of Prints and Drawings, London, David Owsley Museum of Art, Munice/Indiana. Viele Publikationen, Essays, Kritiken zu Kunst, Literatur und Kultur in Katalogen, Periodika und Zeitschriften/ Presse im In- und Ausland.