Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …
Schon als ich noch eine ganz kleine Kaddi war, habe ich Bücher geliebt und mich gefreut wie ein Eichhörnchen, als ich die endlich auch selbst lesen konnte. Was ich seither auch quasi unentwegt getan habe, wofür ich mir heute noch selbst ziemlich dankbar bin, denn sowohl Wortschatz und Sprachgefühl als auch Rechtschreibung haben davon extrem profitiert. Aus der kleinen Bücherei meines Heimatdorfs schleppte ich – chauffiert von Mama – wöchentlich riesige Stapel nach Hause und las, las, las. Was muss ich damals noch Zeit gehabt haben! Die literarische Raupe Nimmersatt tritt heute nur noch im Urlaub in Aktion: Weil ich mich als alte Haptikerin nicht so richtig mit dem Medium E-Reader anfreunden kann, werfe ich dann kiloweise Bücher in den Koffer, schlafe nächtelang nicht aus Angst vor Übergewicht und lese dann am Strand tagsüber quasi die ganze Zeit – nur unterbrochen von gelegentlichen Meer- oder Mittagspausen und mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen meiner oftmals mitgereisten Freundin Susann, mich in irgendwelche Lästereien zu verstricken. (Sie nimmt hingegen konsequent immer nur ein Buch mit, das dafür sehr dick und meist von Jojo Moyes ist und von dem sie am Ende maximal 50 Seiten gelesen haben wird.) Zu Hause komme ich nur noch selten zum Lesen, weil ich zuviel mit Schreiben und anderen Dingen beschäftigt bin. Dafür nutze ich dann um so intensiver Zugreisen zu Auftritten oder anderswohin, fast immer geht es vorher in die Bahnhofsbuchhandlung, wo ich nach einem wenig elaborierten Prinzip mindestens zwei Thriller kaufe (weil ich mich nicht entscheiden kann), und die dann unterwegs wegbinge. Im Anschluss gehen sie dann auf eine längere Reise quer durch den Bekanntenkreis meiner Mutter – wenn ich sie dann irgendwann wiederkriege, kann ich mich meistens schon gar nicht mehr so richtig dran erinnern. Weil halt Thriller. Isso. Natürlich sind aber die Bücher, an die man sich auch Jahre später noch gut erinnern kann und vielleicht sogar gern erneut liest, eindeutig die besten. Sechs davon habe ich nun aus den Regalen gezogen.
Sven Regener: Neue Vahr Süd
Als Herr Lehmann 2001 erschien, steckte ich gerade mitten im Abi und wollte das unbedingt lesen. Habe ich dann auch gemacht. Leider, ohne einen richtigen Zugang dazu zu finden. Rückblickend muss ich sagen, dass ich wohl einfach noch nicht so weit war. Element of Crime habe ich damals schon geliebt, Herrn Lehmann habe erst im zweiten Anlauf ein paar Jahre später ins Herz geschlossen. Das dafür aber unwiderruflich. Übrigens auch die Verfilmung mit Christian Ulmen in der Titelrolle. Den Nachfolger Neue Vahr Süd, der die Vorgeschichte zum ersten Roman erzählt, habe ich inzwischen unzählige Male gelesen oder mir von Regener in der Hörbuchfassung vorlesen lassen. Was dazu führte, dass ich inzwischen gar nichts mehr von Sven Regener lesen kann, ohne dabei seine Stimme im Kopf zu haben. Da gibt es aber wirklich Schlimmeres, denn der Herr Regener hat eine sehr angenehme Stimme mit einem tollen, bremerischen Einschlag. Ich bin auch heute noch Fan der herrlich absurden Dialoge und der seltsamen Gestalten, die sich in Frank Lehmanns Leben tummeln. Gleichzeitig hätte ich es nie für möglich gehalten, dass eine Geschichte, die zu großen Teilen im Umfeld der Bundeswehr spielt, mich bis heute so großartig unterhalten könnte. Und Regener ist ein Meister der Schachtelsätze, was nur deshalb nicht irgendwann nervt, weil er eben auch ein präziser Beobachter ist und den Dingen Raum gibt, gesehen zu werden. Als ich ihn dann vor ein paar Jahren tatsächlich interviewen durfte, erlebte ich einen der krassesten Fan-Girl-Momente meines Lebens. Und natürlich wollte ich wissen, ob diese Verschachtelungen einfach ein Stilmittel sind, das er mag – oder ob er generell einem Punkt mehr Zeit gibt, bevor er ihn irgendwo hinsetzt. Er sagte darauf: »Ich glaube, dass die meisten Gedanken und Gefühle etwas komplizierter sind, als man denkt, und dass es sich dabei meist um Ketten von Gedanken handelt, die sich gegenseitig hervorbringen und bei den Gefühlen oft um eine seltsame Verklumpung widerstreitender Elemente. Manchmal ist es gut, kurz und knapp etwas zu umreißen, man sollte sich aber nicht scheuen, den ganzen großen Weg zu gehen, die große Hafenrundfahrt anzutreten, gewissermaßen. Das lohnt sich und macht Spaß, sowohl in der Literatur als auch in den Songtexten.« Und so ist Frank Lehmann nach über 20 Jahren jemand, den ich gern gekannt hätte und von dem ich das Gefühl habe, dass ich ihn kenne. Und an den ich oft denke, wenn ich Gefahr laufe, etwas zu sehr zu zerdenken. Oder wenn ich – was häufig vorkommt – ein Schachtelsatzmonster erschaffe.
Jasmin Schreiber: Marianengraben
Marianengraben ist im März 2020 erschienen, unsere gemeinsame Geschichte ist also keine lange. Dafür aber eine der intensivsten, schönsten und persönlichsten, die ich mit einem Buch verbinde. Die Story: Paulas kleiner Bruder Tim, den sie mehr liebt als alles auf der Welt, ist vor zwei Jahren bei einem Badeunfall ums Leben gekommen. Seitdem ist nichts mehr wie es war: die Doktorarbeit liegt auf Eis, Paula in ihrer verwahrlosten Wohnung herum, unfähig, mit ihrer Trauer zurecht zu kommen. Bei einem nächtlichen Einbruch auf dem Friedhof – ein Wink ihres Therapeuten, weil sie es nicht über sich bringt, Tims Grab bei Tageslicht zu besuchen – trifft sie auf den greisen Witwer Helmut, der gerade die Urne seiner Angetrauten ausbuddelt. Weil dabei einiges schiefläuft, mündet die Be-kanntschaft in eine Art Roadtrip in die Berge, auf dem ziemlich viele sehr schräge Dinge passieren und Paula sich mit Unterstützung des kauzigen alten Mannes langsam aus dem düsteren Marianengraben wieder an die Oberfläche kämpft. Ich habe viel gelacht bei diesem Buch. Und noch mehr geweint. Wenn ich ehrlich bin, habe ich niemals ein Buch gelesen, bei dem ich ansatzweise so viel geheult habe. Eine ganze Nacht lang haben meine Augen an den Seiten geklebt und wurden immer wieder weggeschwemmt. Dieses Buch hat geschafft, was ich anderthalb Jahre lang nicht hingekriegt habe, nämlich dass ich mich mit meiner eigenen Trauer um meinen völlig überraschend verstorbenen Vater auseinandergesetzt habe. Das war unfassbar schmerzhaft und doch auf eine seltsam friedliche Weise befreiend. Denn gleichzeitig ist es eben auch eine sehr versöhnliche, auf das Weiterleben nach einem Verlust schauende Geschichte, die obendrein auch noch schreiend komische Momente hat. Dass Jasmin Schreiber ehrenamtlich als Sterbebegleiterin und Fotografin für Sternenkinder arbeitet, überrascht dann nicht mehr so sehr. Inzwischen gibt es ein neues Buch von ihr: Abschied von Hermine – ich freu mich schon sehr drauf, es zu lesen.
Pierre Jarawan: Ein Lied für die Vermissten
Pierre habe ich damals bei einem meiner ersten Poetry Slams kennengelernt, und er war es auch, der in meiner Anfangszeit mit konstruktiven Tipps dazu beigetragen hat, mein Schreiben weiterzuentwickeln – und mir Mut gemacht hat, dran zu bleiben. Er selbst ist inzwischen Bestsellerautor und ich freu mich sehr für ihn. Schon den Erstling Am Ende bleiben die Zedern mochte ich sehr; er hat allgemein eine Art, die Dinge zu sehen und zu beschreiben, die sehr poetisch, bildlich und auf eine sehr verzaubernde Weise mitreißend ist. Ein Lied für die Vermissten nun arbeitet 15 Jahre Bürgerkrieg in seinem Geburtsland Libanon auf, 17.000 Menschen gelten seither als vermisst. Eine gänzlich irre Zahl, die sich überhaupt nicht fassen lässt – Pierre schafft das aber eben doch, weil er den Protagonisten Amin seine Erinnerungen an die Geschichte des Nahen Ostens mit einer Leichtigkeit aufschreiben lässt, die den Lesenden das ungeklärte Schicksal all dieser Menschen auf berührende Weise nahebringt. Großes Kino von einem großen Erzähler, dessen Zuspruch ich Einiges zu verdanken habe, was ich heute bin und machen darf. Und der hoffentlich noch mehr zu erzählen hat.
Fredrik Backman: Ein Mann namens Ove
Noch so ein Buch, bei dem ich sowohl Tränen gelacht als auch geweint habe. Auch hier steht ein sehr verschrobener Typ im Vordergrund – irgendwie mag ich diese kauzigen, skurrilen Vögel, die eigentlich ein so großes Herz haben. Ove ist so einer, ein pedantischer Griesgram, der jeden Morgen seine Kontrollrunde in der Siedlung dreht und die Fehltritte seiner Nachbarn akribisch ahndet. Gleichzeitig unternimmt er mehrere Versuche, aus dem Leben zu scheiden, in dem er seit dem Tod seiner Frau Sonja keinen Sinn mehr sieht. Dabei wird er jedoch permanent gestört, vor allem von der jungen Familie, die im Haus nebenan einzieht und für die er allerhand wenig schmeichelhafte Bezeichnungen heranzieht. Parallel wird die bewegte Geschichte Oves erzählt, die ihn zu diesem grummeligen Zausel hat werden lassen. Tief berührend, urkomisch und einfach sehr, sehr schön. Ich habe es geliebt und liebe es noch. Wie übrigens fast alles von Backman, das aber am meisten.
Annette Hess: Deutsches Haus
Wenn ich ehrlich bin: Es hätte auch Dörte Hansens Altes Land werden können, was für mich einfach ein fantastisches Buch ist. Weil da der »alte Zausel« eine Frau ist. Oder mehrere. Irgendwie hat mir die Verfilmung das aber ein bisschen vergrätzt. Dafür kann das Buch nix, ich find es mega und Ihr müsst das alle lesen, wenn Ihr das nicht eh schon gemacht habt. – Aber nu halt: Deutsches Haus (gute Finte, oder?!). Ausgerechnet Iris Berben, die mich in der oben genannten Verfilmung leider nicht so begeistert hat, sagt im Rückentext: »Dieser Roman kommt genau zur richtigen Zeit». Damit hat sie natürlich irgendwie Recht, allerdings wäre das auch in fünf Jahren noch oder vor 20 Jahren schon zutreffend gewesen. Eben darum mag ich es so. Auch hier nimmt sich eine Frau in den frühen 60ern einfach mal das Recht heraus, zu machen, was sie will. Das finden absonderlicherweise viele nicht so richtig cool, aber das ist ihr egal. Sie übersetzt die Zeugenaussagen im ersten Auschwitz-Prozess, das bringt ihr wenig Sympathien und viel Erkenntnisgewinn. Auch den Lesenden übrigens. Also, letzteres. Annette Hess hat schon mit Weißensee (zumindest bis irgendwann kurz vor Ende) begeistert – wie ich die Neuverfilmung von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo unter ihrer Mitwirkung finde, habe ich noch immer nicht entschieden, aber. Sehr gutes Buch. Wirklich.
John Irving: Garp und wie er die Welt sah
Ja doch, sie liest auch nichtdeutschsprachige Literatur. Eins wenigstens wollte ich dabei haben, und das ist eines meiner liebsten. Das mir übrigens von oben schon genanntem Pierre Jarawan einst dringend ans Herz gelegt wurde. Auf dem Bild schaut es arg neu aus – ja, isses. Ich kaufe Bücher, die ich sehr dolle mag, gern auch im Nachgang noch als Hardcover. In dem Fall hab ich es tatsächlich zwar bei einem Slam gewonnen, aber. GARP. Was soll ich sagen. Wer Garp nicht gelesen hat, der/die tut mir leid. Das Leben ist zuweilen irre, das Tragische und das Komische sind untrennbar miteinander verflochten. Irvings Sprachreichtum sprengt die Seiten, und am Ende bleibt da viel Liebe für die Frauen, die sich irgendwie zurechtfinden müssen in der Welt und das gut hinkriegen. Obwohl. Und das ist so aktuell, dass ich das glaube ich auf meinen »Wiederlesenstapel« legen muss.
In der vorherigen Folge lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von Heinz Weißflog
Kaddi Cutz ist Autorin, freiberufliche Redakteurin, Poetry Slammerin, Moderatorin und Texterin. Darüber hinaus gibt sie auch Workshops für Poetry Slam, Kreatives Schreiben und Bühnenpoesie an Schulen und Bildungseinrichtungen. Studiert hat die 1982 in Hannover geborene Niedersächsin einst Sozialpädagogik im katholischen Vechta, weshalb sie auch in diesem Beruf noch unterwegs ist. All das tut sie in ihrer Wahlheimat Dresden, wo sie seit 14 Jahren lebt und trotz beeindruckend schlechter Sächsisch-Skillz und einer tief sitzenden Abneigung gegenüber Buchteln, Letscho und anderen ostdeutschen Leckereien vorbildlich integriert ist. Sie ist Veranstalterin und Moderatorin des Poetry Slams »Geschichten übern Gartenzaun« in der Groovestation und Gastgeberin von »Lesen für Bier«. 2014 erschien ihr erster Kurzgeschichtenband Voll viel Geräusch bei Zwiebook, seit 2017 erfreut der Nachfolger Warum ich meistens keinen Freund habe, und wenn, dann nur kurz mit traurigen Fun Facts aus ihrem Liebesleben. Texte von ihr gibt es auch in den Anthologien Schreiben statt Jammern – Die ultimative Liebeskummer-Anthologie des Poetry Slam (Lektora)und Lautstärke ist weiblich (Satyr) zu lesen. Im Juli 2021 erschien anlässlich des 10. Jubiläums der »Geschichten übern Gartenzaun« die Anthologie The Zaund of Groove, deren Herausgeberin sie ist.