Carl-Christian Elze (c) Sascha Kokot
08.10.2022
Karin Großmann

Elbspaziergang mit Zaubersprüchen

Der künftige Dresdner Stadtschreiber Carl-Christian Elze plant einen Wettstreit zwischen Kruzianern und Thomanern

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Wilde Rosen und Currysoßen, Kleidersäcke und Spritzbestecke, Thälmannjahre und Nazibahre – das und noch mehr entdeckt der Dichter Carl-Christian Elze in der Leipziger Eisenbahnstraße. Standhaft verteidigt sie ihren Ruf als »schlimmste Straße Deutschlands«. Doch so groß wie die Kriminalität ist auch der Zuzug von Künstlern und jungen Leuten. Für solche widersprüchlichen Erscheinungen hat Elze einen Blick. Der 48-Jährige mischt sich mit seiner Literatur in die Wirklichkeit ein. Er schreibt Lyrik und Prosa, streng in der Form und stark in den Bildern. Deshalb wählte ihn die Jury zum Dresdner Stadtschreiber für 2023. Das Amt wird getragen von der Landeshauptstadt und der Kulturstiftung der Ostsächsischen Sparkasse und soll ein halbes Jahr lang konzentriertes Arbeiten ermöglichen. Damit verbunden ist eine mietfreie Wohnung und ein Stipendium von monatlich 1.500 Euro. Fast vierzig Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum hatten sich darum beworben.

Für den Leipziger Carl-Christian Elze bedeutet der Aufenthalt auch eine Rückkehr an vertraute Orte. Vor einigen Jahren unterrichtete er in Dresden angehende Ergotherapeuten mehrmals die Woche in Biologie, Anatomie und Physiologie. Das Jonglieren mit lateinischen Muskel- und Knochennamen, sagt er, habe ihn an Zaubersprüche erinnert. Abendliche Elbspaziergänge inspirierten ihn zu Gedichten. 2013 zog er als erster »Poet in Residence« ins Gästezimmer vom Buchhaus Loschwitz ein. Im nächsten Jahr will Elze einen Lyrikband mit dem Arbeitstitel panik/paradies abschließen. Das Gedicht über die Eisenbahnstraße gehört dazu.

Auch neue Geschichten sollen entstehen. Sein Debütroman Freudenberg war gerade erst für den Deutschen Buchpreis nominiert. Der Titel täuscht. Der junge Mann namens Freudenberg scheint von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Im Urlaub an der polnischen Ostsee tauscht er seine Identität mit einem Toten, der ihm verblüffend ähnelt, und hofft wohl auf einen Ausbruch aus allem, was ihn zu Hause und in der Schule bedrängt. Umsonst. Am Ende schleicht er sich heimlich in den Keller der Eltern zurück. Wortlos stellen sie ihm das Essen mit seinem Kinderbesteck auf die Treppe. Ob er das alles nur albträumt und nach einem Ostsee-Unfall im Koma liegt, ob er zum Mörder wurde, bleibt offen. Die poetisch aufgeladene Sprache macht die Lektüre zu einem schaurig-schönen Erlebnis. Da bewegen sich Wellen ans Ufer, um sich sanft das Genick zu brechen. Fassaden sehen so fiebernd und verschwitzt aus wie Patienten mit tropischen Krankheiten. Balkonmöbel häufen sich im Hotel wie halb verrottete Walknochen.

Vor diesem Buch, das in der Dresdner Edition Azur erschien, veröffentlichte Elze unter anderem die Erzählungen Oda und der ausgestopfte Vater. Darin versammelt er Beobachtungen aus dem Leipziger Zoo, wo er einen Teil seiner Kindheit verbrachte. Sein Vater arbeitete dort als Tierarzt. Von 2004 bis 2009 studierte Elze am Literaturinstitut. In Dresden will er andere zum Schreiben anregen. Er plant zum Beispiel Workshops für Sänger des Kreuzchors. Die Kruzianer sollen sich dann beim Poetry Slam mit Thomanern messen. Im Fußball hat das schon mal geklappt.

Buchtipp: Carl-Christian Elze. Freudenberg. Edition Azur, 175 Seiten, 24 Euro

Lesung am 20. Oktober, 19.30 Uhr, in der Buchhandlung Findus in Tharandt