Kathrin Schmidt © Gunter Glücklich
03.12.2021
Kathrin Schmidt

Frau Schmidt packt gern und ungern Koffer

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Kennen Sie Frau Schmidt? Aber ja. Jede und jeder kennt eine Frau Schmidt. Wenn Frau Schmidt Herrn Müller heiratet, heißt Herr Müller womöglich ebenfalls Schmidt, falls ihm der Name gefällt. Ihr behagt er nicht so sehr, er klingt tatsächlich wie Müller, und wer denkt bei einer Frau Müller nicht gleich das Lieschen mit? Na, wenigsten ist Lieschen Schmidt nicht derart gängig, dass sie an einen Namenswechsel denken muss. Ihren Namensgeber hat sie sehr geliebt, er war ihr Vater und in den ersten Jahren der Kindheit der strahlende Held, den sie im Eiscafé verstohlen mit anderen Männern verglich und ihn natürlich immer am allerschönsten fand. Die anderen Herren abgeschlagen. Sie war stolz. Damals auch auf ihren Namen. An den Koffern der Kindheit, fuhr sie ins Chorlager oder mit den Eltern im Nachtzug gen Pasewalk, um nach Züssow und dort wiederum auf die Insel Usedom umzusteigen, baumelte ein ledergefasstes Schild mit dem Familiennamen und der Adresse. Letztere wechselte, bis sie volljährig war, genau zwei Mal. Eine ruhige, kleinstädtische Kindheit ließ sie nun hinter sich und zog aus zum Studieren. Mit Koffern, an denen … Nun ja.

Inzwischen ist das Kofferpacken eine perfektionierte Angelegenheit geworden, und sie war froh gewesen, dass sie sie auch in diesen reisefeindlichen Zeiten wahrnehmen konnte, um nach Dresden aufzubrechen. Als Stadtschreiberin. Ein Schild trägt ihr Koffer heute nicht mehr, dafür zuweilen ein farbiges Bändchen, um ihn bei eventueller Gleichheit zweier Exemplare dennoch vom Flughafenlaufband fischen zu können. Von Berlin nach Dresden fliegt man natürlich nicht. Das Auto hatte sie vollgeladen mit Dingen, die ihr einfach nie fehlen dürfen – um dann festzustellen, dass einige davon sich ohnehin in der Dachwohnung mit großer Terrasse befanden. Ihr Mann, der den Wagen an der Peripherie der Hauptstadt eher gebrauchen konnte als sie selbst zwischen zwei Altpieschener Straßenbahnhaltestellen, wusste, was er tat, als er ihn bald nach ihrer Dresdener Ankunft zurücklenkte.

Warum Dresden? Zunächst verbinden Erinnerungen Frau Schmidt mit der Stadt. Die erste aus den 60er Jahren, als sie, zehnjährig und kurzbeinig, während eines Ausfluges aus einem Ferienlager in Flöha mit dem Zerstörungsbild der Frauenkirche konfrontiert wurde und mit anderen Kindern, das Pioniertuch fest geknotet, schwor, fürderhin für den Frieden kämpfen zu wollen. Später am Tag brachte ein Schiff den Kindertrupp nach Bad Schandau und wieder zurück. Sie war währenddessen so stolz auf ihre knallroten Kniestrümpfe, dass sie immer wieder verzückt an sich herabblickte. Als die Erzieherin, bei Bockwurst und Fassbrause, fragte, wo sie die denn her habe, erzählte sie, dass die Oma aus dem Westen sie geschickt hatte. Anlass für eine mahnende Abhandlung, dass der Westen die Menschen mit überbordendem Konsum besteche und Glühbirnen so konstruiere, dass sie nach kurzer Zeit entzwei gingen und man neue kaufen müsse. Dafür sorge die Profitgier der Fabrikherren. Eigentlich erwartete Frau Schmidt, die damals ein dickliches Mädchen war, ein baldiges Auseinanderfallen der Knallroten. Ihre Mutter gab sie jedoch im kommenden Jahr an die Tochter einer Bekannten weiter, und auch danach noch begegneten sie ihr in der Thüringer Heimatstadt an diesem oder jenem Mädchenbein.

In den späten 70ern und 80ern besuchte Fräulein Schmidt, wie sie nun leider genannt wurde, hin und wieder einen Freund, der in Dresden lebte. Er war es auch, der sie in Kontakt brachte mit der Oppositionsgruppe um die Versöhnungskirche. Anfang der 80er Jahre las das Fräulein dort, gemeinsam mit Christoph Kuhn, Gert Neumann oder Thomas Rosenlöcher. Für diese erste Tuchfühlung mit Kritikern des Realsozialismus hat sie bis heute zu danken.

Ihr Freund wohnte damals in einem heruntergekommenen Mietshaus in Blasewitz. Betrat man die Wohnung, stand man sogleich im schäbigen Küchenschläuchlein. Von Komfort keine Spur, aber den vermissten sie damals nicht, weil sie keinen Begriff davon hatten. Stattdessen beehrten sie die großen Kunstaustellungen der DDR mit vielstündiger Anwesenheit, fuhren in die Weinberge, um zu wandern, streunten lange Nachmittage über Friedhöfe und redeten sich abends bei Rotwein und Zigaretten in größeren Gruppen die warmen Köpfe heiß.  Manche der damals geknüpften Beziehungen bestehen bis heute fort, sind aber nach und nach Berliner Beziehungen geworden. Auch der Freund zog wenig später mit seiner Familie nach Berlin, sorgte jedoch dafür, dass Fräulein Schmidt zu anderen Gelegenheiten des Lesens in Dresden in der Neustadt übernachten konnte oder in der Villa Marie am Blauen Wunder. Die Menschen schienen in Dresden ungewohnt eigensinnig auf sich selbst zu bestehen, was sie nie gelernt hatte. Diese Lektion nahm sie bereitwillig an. Ihre Erinnerung an Dresden ist eine an Barbarei und Zerfall. Zwischen beidem nahmen sich Menschen, die lebten, schön aus.

In den letzten dreißig Jahren war Frau Schmidt zu selten in der Stadt, als dass sich ein Bild ihres neuerlichen Aufschwungs hätte formen können in ihrem Kopf. Die Sehnsucht nach Abgleich mit Erinnertem jedoch wuchs proportional mit der gefühlten Entfernung, in die sich Dresden zum linksbürgerlichen Milieu der Bundesrepublik zu begeben schien. Die Bewerbung um ein Halbjahresstipendium kam also mehr als recht und führte Ende Mai dieses Jahres zum Kofferpacken.

Frau Schmidt in Dresden ist ja nichts Besonderes. Ist eine von vielen, so oder so. Die ersten Wochen verbrachte sie mit langen Straßenbahnfahrten zur Erkundung, einigen kleinen Auftragstexten und ruhigem, regelmäßigem Nachtschlaf, wie man ihn nur allein im Bett haben kann. Bis dann eine Welle der Empörung über ihr zusammenschlug, die sich an ihrer ablehnenden Haltung gegenüber genbasierten Impfungen von Kindern gegen COVID-19 festmachte. Sie steht zu dieser Haltung nach wie vor und verweist auch weiterhin auf den Nürnberger Kodex, der für sie in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt. Da sie mit dem Aussprechen dessen nichts und niemanden gefährdet, hält sie es für ein politisches Statement, das ihr zusteht. Wie sie jedem anderen Menschen das gegenteilige zugesteht. Da es ihr an Lautstärke und Aggressivität von Kindesbeinen an gebricht, hält sie Kritik an ihren Äußerungen leise und selbstbewusst stand. Das vermeintliche Argument, dass sie ihre Äußerungen ja ruhig tun, aber eben nicht erwarten könne, dass sie unwidersprochen bleiben, gibt sie hingegen gerne zurück: Auch die Meinungsmacher können ja nicht erwarten, dass sie unwidersprochen bleiben. Frau Schmidt war es ja, die sich zunächst der vorgeblichen Mehrheitsmeinung widersetzt hatte! Ein bisschen mehr Aushaltevermögen wünscht sie der anderen, ohnehin stärkeren Seite da schon.

Dass die Stadt Dresden nicht abwickelnd in die Stipendienvergabe eingriff, fand sie souverän. Es spornte sie an, sich ihrer Arbeit zu widmen. Zunächst beschloss sie, sich zu Recherchezwecken in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek anzumelden. Zum Ende des letzten Jahres hatte sie einen weit fortgeschrittenen Roman dem Verlag und sich selbst gegenüber zurückgezogen, weil er ihr aus der Zeit gefallen schien, die sich sehr verändert hat in den Monaten seit Beginn der Krise. Nicht die Abwesenheit eines handelnden Virus war es, die sie dazu bewogen hatte, sondern die veränderte Art gesellschaftlichen Umgangs miteinander, die ihr die Sprach-Art und -Weise ihrer Arbeit geradezu obsolet erscheinen ließ. Nach Dresden hatte sie ein neues Projekt mitgebracht, zu dem sie hier einiges zu finden hoffte. Sie füllte also online das Antragsformular aus und fuhr ein, zwei Tage später in den Zelleschen Weg, ihren Ausweis abzuholen. Wieder zu Hause, drehte sie ihn unentschlossen zwischen den Fingern und überlegte, wonach sie den Katalog als erstes befragen sollte. Sie legte die Karte auf den Tisch und gab aus bis heute unerklärlichem Grunde einen Namen ins Suchfeld ein: Erna Raabe Freiin von Holzhausen, Protagonistin eben jenes zurückgezogenen Romans. Frau Schmidt hatte vor vier, fünf Jahren im Schlosspark des vorpommernschen Dorfes Schmuggerow, seit vielen Jahren Ort sommerlicher Urlaube mit Kindern, später Enkeln, einen von Brombeergesträuch im Drahtverhau überwucherten Findling entdeckt, offenbar einen Grabstein mit diesem eingemeißelten Namen und Geburts- wie Sterbedaten. Der Friedhof des Dorfes befindet sich in etwa 300 Metern Entfernung. Was also war das?

Das Internet gab in recht spärlichen Einlassungen darüber Auskunft, dass es sich bei Erna Raabe um eine vergessene, im Nirvana der Kunstgeschichte verschollene Malerin der Stuttgarter Sezession handele, die seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts mit der jüdischen Malerin Käthe Loewenthal eng befreundet gewesen sei. Im Dritten Reich habe sie zu ihr gehalten und sei sich auch darin der Unterstützung der Gräfin Hertha von Schwerin, Schlossherrin in Schmuggerow, sicher gewesen. Seit der Hochzeit Herthas und deren Umzug nach Schmuggerow Anfang der 20er Jahre habe sie jedes Jahr einige Zeit dort verbracht, sei 1938 verstorben und dort im Schlosspark beigesetzt worden, während Käthe Loewenthal 1942 im polnischen Izbica umgekommen sei. In dem einen, dem anderen Buch fand Frau Schmidt Erna Raabe später erwähnt, insgesamt aber blieben die Auskünfte spärlich. Im Roman hatten sich Erna Raabe und der Dorfschäfer Paul, mehr als 50 Jahre später verstorben, im Totenreich kennen- und liebengelernt. Während Paul unter den immer weniger werdenden Älteren des Dorfes noch hin und wieder erinnert wird, geschieht Erna Raabe nichts Vergleichbares mehr. Zu lange schon ist sie tot. Wenn jedoch jemand an einen Verstorbenen denkt, den er noch leibhaftig gekannt hatte, so ist dieser flugs beim ihm, schlüpft ihm ins Denken und kann es solange beeinflussen und in unerwartete Richtungen lenken, wie die Erinnerung anhält. Paul erzählt Erna Raabe gern von seinen gelegentlichen Ausflügen. Als die Dorfälteste, zum Zeitpunkt des Todes der Erna Raabe zehn Jahr alt, endlich daran gehen will ihre Hinterlassenschaften zu ordnen, Haus und Hof kann sie nicht vererben, weil es keine Verwandten mehr gibt, fällt ihr ein altes Fotoalbum in die Hände. Es zeigt sie als kleines Mädchen mit der Gräfin von Schwerin, deren vier Töchtern und Erna Raabe beim Picknick. Sie erinnert sich an die Frau, die sie für eine Dichterin hielt, denn sie sprach oft in Reimen und sehr gewählt, und in diesem unerwarteten Moment kann sich auch Erna Raabe noch einmal  aufschwingen und ins Denken der alten Frau eingreifen. Sie tut es entschlossen und macht die Dorfälteste mit über neunzig Jahren zu einer plötzlichen Malerin, die in kurzer Zeit viele erstaunliche Werke schaffen und eine Ausstellung im Stralsunder Museum erhalten wird …

Mehr will Frau Schmidt nun lieber nicht verraten. Die Eingabe dieses Namens aber hatte zur Folge, dass die SLUB einen Ausstellungskatalog angab: Erna Raabe im Jahre 1987 im Kulturhistorischen Museum Stralsund.

Sie war baff.

Sie saß wie versteinert.

Entlieh sich den Katalog, ein auf gelbweißem DDR-Papier gedrucktes, schmales Heftchen, und fand zum ersten Mal eine kurze, zusammenhängende Biografie der Malerin, dazu einige ihrer Bilder in (zugegeben mangelhaften) Abzügen. Sie las, dass im Zuge der Bodenreform in sowjetisch besetzten Zone 1947 die Restbestände des ausgeplünderten Werkes der Erna Raabe nach Stralsund verbracht worden seien und dort über Jahrzehnte im Depot geschlummert hätten. Bis ein Mitarbeiter des Museums vermutlich ein Ziehen im Herzen beim wiederholten Anblick der Gemälde und Zeichnungen bekommen hatte? Vielleicht. Dieser Mitarbeiter verantwortete offenbar die Ausstellung in Stralsund und wechselte im darauffolgenden Jahr in die Handschriftenabteilung der damaligen Sächsischen Landesbibliothek! Offenbar hatte er auch weiterhin großes Interesse an Erna Raabe und verfolgte ein Dissertationsprojekt über sie. Bei seinem Ausscheiden vor ca. zwei Jahren übergab er sein gesamtes Arbeitskonvolut zu Erna Raabe der Bibliothek, wo Frau Schmidt es im Kalliope-Verbund aufspüren konnte. Es ist noch nicht erschlossen, dennoch verfuhr man sehr großzügig mit ihr und dem Objekt ihrer Begierde: Sie erhielt Einsicht im Sonderlesesaal und verbrachte fortan viele, viele Tage am Zelleschen Weg. Sah erstmals Fotos Erna Raabes aus Jugend, kurzer Ehe und von späteren Freundschaften. Das Totenbett zeigt sie mit streng zurückgekämmtem Haar, friedvoll und noch immer sehr schön. Das Wunderbarste aber waren an die vierhundert fein säuberlich und in großer Fleißarbeit aus dem Sütterlin transkribierte, oftmals sehr lange Briefe Erna Raabes, die meisten aus den Jahren zwischen 1934 und 1937, an  Hertha von Schwerin, aber auch an und einige von Käthe Loewenthal. Was für ein Fund! Eine Protagonistin lernt sprechen! Weil Frau Schmidt nicht all zu viel fotografieren durfte, schrieb sie seitenlang ab und notierte sich die herzzerreißenden, witzigen, liebestollen Anreden der Briefe, fischte nach sprachlichem Erfindungsreichtum. Wie fein lassen sich die Ängste und das Gefühl der Bedrückung in den ersten Jahren des deutschen Faschismus aus wenigen Sätzen und Bemerkungen herauslesen, in denen davon die Rede ist, dass sich dieses oder jenes Thema sicher besser unter vier Augen besprechen ließe als per Brief. Die Suche nach Synonymen für offen Verstörendes, für eigenes Denken unter den Bedingungen des Diktats … Kurz: Frau Schmidt war beglückt und beinahe berauscht von diesem überraschenden Fund. Auf einmal war da diese Idee, wie der Roman der vergangenen Zeit zu entnehmen und in die angebrochene zu übersetzen sei. Und so sitzt nun Frau Schmidt und arbeitet daran, den Rückzug des Romans zurückzuziehen und ihn zu einem möglichst guten Ende zu führen. Jetzt, da sie Frau Raabe im Ohr hat und ihr gleichzeitig ins Denken schlüpfen konnte wie Erna Raabe der Dorfältesten…

Dresden hat sich gelohnt. Darf sie das sagen? Frau Schmidt empfindet Dresden als eine Stadt der Wunder, als eine Fügung. Sie, die Wundern und Fügungen bislang eher abhold war. Aber ein besseres Wort lässt sich derzeit nicht finden für diesen großen, unerklärlichen Zufall der Namenseingabe im Suchfeld der SLUB.  Nur ungern packte sie ihren Koffer unlängst, das Halbjahr ist seit gestern vorbei, und fürs Auspacken lässt sie sich Zeit. Will nicht wahrhaben, dass es aus und vorbei ist. Rauchend steht sie auf ihrem Berliner Balkon, während über ihr der Herrnhuter Stern wie in jedem Advent rot leuchtet. Nur, dass Frau Schmidt dieses Leuchten plötzlich ganz anders sieht. Etwa: So schön. So rot wie Blut. So sächsisch …

 

Kathrin Schmidt (*1958) war Dresdner Stadtschreiberin 2021. Für ihre literarischen Arbeiten hat sie zahlreiche Preise erhalten, darunter den Leonce-und-Lena-Preis 1993. Ihr 1998 erschienener Roman »Die Gunnar-Lennefsen-Expedition« wurde mit dem Förderpreis des Heimito-von-Doderer-Preises und dem Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1998 ausgezeichnet. Für ihren Roman »Du stirbst nicht« erhielt sie 2009 den Preis der SWR-Bestenliste und den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen ihre Gedichtbände »waschplatz der kühlen dinge« (2018) und »Sommerschaums Ernte« (2020).

Informationen zum Stadtschreiberamt auf dresden.de

Videoaufzeichnung der Antrittslesung von Kathrin Schmidt am 25. Juni 2021

DIE FÜNF. Fragen an Kathrin Schmidt von Volker Sielaff