Artur Becker lebt seit 1985 in Deutschland. Geboren wurde er als Artur Bekier im polnischen Bartoszyce. Er veröffentlichte mehr als 20 Bücher: Romane, Gedichte, Erzählungen, Essays … und übersetzt aus dem Polnischen, beispielsweise Tadeusz Borowskis Erzählungen »Willkommen in Auschwitz«. 2019 bekam er den japanischen Kakehashi-Literaturpreis, im Oktober ist er zu Gast in der Schreibwerkstatt mit angeschlossener Lesung in der Reihe »Sprachen machen Leute«. Veranstalter und Moderator, der Dresdner Schriftsteller Michael G. Fritz, sprach mit ihm über Kriege und Flüchtlinge, Neofaschismus und Venedig als Zuhause …
Du wirst wieder in Dresden sein, zur Schreibwerkstatt und zur Lesung, nachdem du so oft an diesem Ort warst. Wir freuen uns sehr auf das Wiedersehen. Was erwartest du?
Ich freue mich auch sehr auf das Wiedersehen, zumal ich Dresden mag und viele Freunde in dieser Stadt habe. Na gut – meine Erwartungen sind bescheiden, aber ich bin dennoch leicht aufgeregt, denn seit meinem letzten Besuch ist ja unsere Welt durch die Pandemie, die Kriege (Israel und Gaza), die Inflation, die Klimakrise, die Flüchtlingskrise und die Rückkehr des Nationalismus chaotischer und noch komplizierter geworden. Man muss es allerdings geopolitisch betrachten; Dresden und Deutschland liegen nicht auf einer einsamen Insel, und es reicht nicht, die Infrastruktur zu erneuern, die vielen ökonomischen und sozialen Probleme anzupacken, den Drang zum Faschismus zu stoppen – wir müssen uns im 21. Jahrhundert neu platzieren und erfinden. Vor allem geistig, das andere wird sich dann schon materialisieren, keine Bange.
Mit deinem brandneuen Erzählband »Von Barschen, Augustäpfeln und anderen Menschen« bist du zum ersten Mal in Dresden. Hast du schon oft daraus gelesen oder ist es die erste Lesung überhaupt?
Nein, das ist nicht die erste, aber eine der ersten Lesungen. Ich schwimme noch ein bisschen und teste grade, was mir Spaß macht und was nicht, wenn ich eine Erzählung öffentlich vorstelle.
Mit diesem Buch gehst du wieder zurück in die Gegend deiner Kindheit und Jugend. Du gehst nach Masuren. Bei der Lektüre bekam ich den Eindruck, du schließt an deinen ersten Roman »Dadajsee« an …
Ja, in vier Erzählungen gibt es durchaus das Motto: Back to the Roots … Aber elf Erzählungen spielen an anderen Orten, in den Niederlanden, in New York, in Schweden, in Frankfurt am Main, in Südafrika usw. Ich bin in den letzten zehn Jahren so viel gereist, dass ich nicht mehr nur in Deutschland und Polen literarisch »herumlungern« kann, ich bin praktisch überall ein bisschen zu Hause. Ein Hotelmensch bin ich geworden, schließlich wohne ich seit fünf Jahren in einem Hotel in Frankfurt. Könnte aber auch Tokyo oder Santiago de Chile sein.
Oft taucht in deinem Werk der Begriff magischer Ort auf. Was sind magische Orte für dich? Venedig? Ermland, der See, an dem du deine Kindheit verbracht hast, wo dein Vater in dem Ferienlager arbeitete, wo du in dem Wald deine erste Liebe fandest?
Venedig ist ein Zuhause geworden – der Kreuzritterorden zog doch aus Venedig nach Ermland und Masuren um, und in Venedig finde ich die Dialektik unseres Daseins, die versteckte Form unseres Daseins, in den Wasserspiegelungen. Ich kann praktisch nicht mehr in der Natur sein: Ich brauche unsere europäische Kultur wie Wasser und Brot, und deshalb liebe ich Venedig oder Frankfurt am Main. Das muss man sich vorstellen: Ich, ein Naturkind aus Ermland und Masuren, aber ich bin auch ein gnostisches, manichäisches Kind. Die Schönheit der Natur ist bloß verräterisch, und sie erteilt uns grade eine Lehre, weil wir sie stets rationalisieren, dabei hat sie ihre eigene Logik, ihr eigenes Verständnis von der Welt. Das begreifen wir langsam.
Das Durchgangslager Friedland – ein magischer Ort?
Für die deutsche Geschichte auf jeden Fall – nicht nur für meine private. Gelang es einem DDR-Menschen, das Land zu verlassen, legal oder illegal, kam er nach Friedland oder nach Gießen, wie das der Fall bei einigen DDR-Dichtern war. Aber ich bin nicht defätistisch unterwegs, was die deutsche Geschichte angeht. Für mich ist sie nicht so verstrahlt wie für einen Lutz Seiler. Ich bin eher ein Teilnehmer eines deutschen Coaching-Kurses: Ich will eher begreifen, wie das deutsche 20. Jahrhundert überhaupt möglich war, in all seiner Widersprüchlichkeit.
Ulro ist nicht dein Sehnsuchtsort, sondern Kosmopolen? Ein Begriff, der eine große Bedeutung für Dich und Dein Werk hat …
Ja, Ulro ist ein Begriff aus der Poetik von William Blake und steht für ein verdammtes, verlorenes Land, in dem zwar auch geniale Geister wohnen, aber keine Verbindung mehr zur wichtigsten Kraft des menschlichen Daseins haben: Zur Einbildungskraft, zur Kreativität und zur Passion … Letztendlich zur Empathie. Das ist das größte Problem unserer Gegenwart, dass es immer weniger Empathie gibt. So eine Menschheit erwartet nichts Gutes, wenn sie auf diesem Weg voranschreiten wird … Und sicher: In meiner Republik Kosmopolen gibt es auch Platz für die müden Geister aus dem Land Ulro … wenn sie sich gut benehmen und … nicht mehr verzweifeln.
Das Buch ist auch eine Erinnerung für deutsche Leser*innen an die Geschichte unserer östlichen Nachbarn, von denen wir herzlich wenig wissen, manchmal auch herzlich wenig wissen wollen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Masuren auch ein deutsches Erbe hat.
Das stimmt, die Deutschen wissen relativ wenig über Polens Geschichte. Das deutsche Erbe in Ermland und Masuren wird in Kreisen des Vereins und der Institution Borussia in Olsztyn am Leben gehalten. Rechtskonservative sehen das mit Argwohn, aber das ist dem Nationalismus geschuldet. Grundsätzlich ist das ein leidiges Thema. Und es ist fast schon zu spät, jetzt den heutigen Generationen in der BRD oder in Frankreich verständlich zu machen, wie ungeheuerlich die materielle Zerstörung und die geistige Vernichtung durch die Deutschen in Polen während der sogenannten Nazi-Okkupation war. Erinnert man daran, wird einem ‒ um es mal in Worten von Gombrowicz auszudrücken ‒ sofort »eine Fresse verpasst«: »Aha, das ist eine Instrumentalisierung der Geschichte, wie sie die Rechtskonservativen in Polen betreiben«, könnte dann jemand verletzt sagen und nicht immer nur aus dem linken Lager im Westen. Nein, falsch, hier geht es wirklich nur um Fakten. Neben dem Holocaust hat noch die Vernichtung der polnischen Nation stattgefunden, was zum Glück das Dritte Reich nicht vollenden konnte.
Aber um das deutsche Erbe in Polen würde ich mir keine Gedanken machen – das alte schöne Breslau werden die Polen bestimmt nicht zerstören und mit polnischer Architektur ersetzen … Ich würde eher in die Richtig gehen: Wann werden denn die Deutschen endlich vollends eine offene Gesellschaft in allen Bereichen, nicht nur auf dem demokratischen Feld, sondern auch in ihrer überdimensionierten Bürokratie, in ihrer stets sehr idiosynkratischen Geschichtsperspektive und vor allem im Kontext des Mutes des gemeinen Bürgers – wie es in Frankreich, England und Polen praktisch immer war. Leider ist das Buch von Helmuth Plessner: Die verspätete Nation immer noch ziemlich aktuell. Deutschland ist in vielen Bereichen leider viel zu konservativ und steht sich selbst im Wege: Was den technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt angeht, was das Utopische und Unbekannte betrifft. Sicherheit ist eben nicht alles, der Mensch muss Risiken eingehen, damit er sich geistig und technologisch entwickeln kann. Vielleicht lesen die Deutschen den Faust falsch? Es ist doch eine Ermutigung zur Rebellion. Ach, wie gut, dass es neben Gott auch noch Goethe gibt …
Indem der Leser all diesen Fragen nachgeht, besichtigt er eine Epoche in der Geschichte Polens. Die Zeit des Kriegsrechts. An die Rolle der DDR, die keiner mehr kennen will.
Ich protestiere – ich will die DDR kennen, es ist auch ein Teil meiner privaten Geschichte. Keine Angst, die DDR wird aus der Geschichte nicht verschwinden, nur weil sie so ein kurzes Leben hatte ‒ im Kontext der europäischen Epochen. Der Grund für ihren Verbleib ist jedoch tragisch: Das DDR-Regime hat den Menschen ein ungeheures Leid zugefügt. Das wird oft unterschätzt, verdrängt, vergessen, missverstanden oder banalisiert. Auch hier muss man aber die Dinge beim Namen nennen. Aber, wie gesagt, ich denke zwar kritisch über Polen und Deutsche und Europa, jedoch nicht defätistisch und nihilistisch und schon gar nicht faschistoid. Deutschland, Europas langer Atem, sollte die jetzige Krise nutzen, um sich vom unnötigen, weil schwermutig machenden Ballast zu befreien. Denn die Zeiten werden wirklich noch härter, und da braucht man einfach kluge Leute, die Probleme lösen und nicht vergrößern. Und das betrifft nicht nur die Regierenden, sondern auch die Regierten. Mit anderen Worten: Runter vom hohen apokalyptischen Ross und schön den Ball flachhalten, bevor man wieder zuschlägt, doch dann richtig. Aber diesen Ratschlag kann man praktisch auch ganz Europa geben. Doch das wäre ein ganz anderes Thema.
Ich freue mich auf das Wiedersehen!
Artur Becker liest am 28. Oktober im Rahmen der Reihe »Sprachen machen Leute« im Erich Kästner Haus für Literatur. Zur Veranstaltung
Am Vorabend findet die Schreibwerkstatt mit Artur Becker als Gast statt.