Anna Zepnick: Rabensingen (Poetenladen), Bild von der Autorin
06.09.2024
Tomas Gärtner

Lebensfragen auf kleinstem Wortraum

Das Debüt von Anna Zepnick erscheint in der Reihe »Neue Lyrik«

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In ihrem Debüt rabensingen zeigt sich die Dresdner Dichterin Anna Zepnick als Meisterin der Verknappung. Ihre Gedichte laden ein, uns nicht als Vereinzelte wahrzunehmen, sondern als Glied einer Kette. Was einen als Person ausmacht, ist auch in einer Herkunft gegründet. So begegnen wir in den Versen der 1970 in Dresden geborenen Dichterin den Großeltern; tauchen ein in ein einfaches Leben in einem kleinen Haus mit Kammern und Stuben – »kohleherd federbett holzkitt abort / mit dem keller / apfel an apfel / kartoffeln und ratten und gift«. Über die Großmutter erfahren wir mehr als über den Großvater. In einem Gedicht trägt sie unterm Kleid gar »großmutters buxen«.

Die Sprechende in diesen Zeilen begegnet uns als vielschichtige Person. Nicht nur als Enkelin ihrer Großeltern, auch als Mutter, die zugleich ihre eigene Kindheit in sich trägt. Das schildert sie in einem Alltagsvorgang: Schulweg, Mutter nimmt dem Kind die Schultasche ab. Wie schnörkellos sie das Empfinden auszudrücken vermag, dass viel Zeit in Windeseile vergangen scheint: »gestern trug ich meinen roten ranzen / heute trag ich den des söhnchens / blau der ranzen / meine haare grau«. Und dann dieser Impuls, das Kind zu behüten, als es zu regnen beginnt. Aber das geht bereits seinen eigenen Weg. Große Lebensfragen werden aufgerufen auf kleinstem Wortraum.

Diese Person kann außerdem »mädchen im mond« sein oder ein verspielter Clown. Auch die Traumwelt gehört dazu. Diese faszinierenden Gedichte zeigen uns: Wir sind mehr, als wir zu sein meinen. Nicht alles schmeichelt dem positiven Selbstbild. Sie aber schlägt keinen Bogen darum. Mitten hinein geht’s ins ungemütlich Animalische: »ich bin ganz wild / drin innen / halt ich ein tier / gefangen / und krieg es nicht gezähmt«, beginnt ein Gedicht.

Noch extremer ist »löwin«. Da entfaltet sie die verborgene Bedeutung eines Wortes, indem sie es wörtlich nimmt: »heut nacht hab ich mich herrlich eingefleischt«. Lust und Gewaltfantasien gehen eine beunruhigende Mischung ein.

Beeindruckend, wie großartig sie die Kunst äußerster Reduktion beherrscht. In eng gefügten Worten gelingt ihr der paradoxe Effekt guter Lyrik: Je weniger dasteht, desto gewaltiger die Explosion eigener Assoziationen in den Köpfen von uns Lesenden.

So ein Meisterwerk an Dichtheit ist »ausflug«: 14 Zeilen, die längste umfasst fünf Worte, die meisten zwei, und doch ist alles gesagt: Das Entzücken bei Betrachtung eines ländlichen Idylls, ausgedrückt, indem alles in Verkleinerungsform daherkommt: »die bienlein / die lämmlein / die wölkchen«. Was am Ende zurückbleibt: »die kirche / im dorf«. Man wird an diese Redewendung erinnert. Aber hier kommt sie konkret daher. Die unausgesprochene Frage, um die sich alles dreht, lautet: Was bleibt in uns vom Besuch in fremdem Ort?

Gute Lyrik weckt das Abwesende. Mustergültig kann man das in »schöner himmel heute« erleben. Ein »er« hat diesen Himmel so gut gemacht: »wie hieß er doch gleich / ich komme nicht drauf.« Dann werden menschliche Vorstellungen über diesen »er« aufgeführt. Die Sprechende erwidert darauf: »auch das glaub ich nicht« – eine Alltags-Redewendung, die sich aber mit Bedeutsamkeit auflädt. Dann noch so eine lässige Bemerkung: »lang nicht gesehen find ich«.

Worum geht’s? Um nichts Geringeres als Gott, klar. Wo steht das? Wir gehen Zeile für Zeile noch mal durch. Nur, das Wort, was nicht vorkommt, ist: »Gott«. Gravierende Themen – die Gottvergessenheit der Gegenwart, die Unmöglichkeit, diese höchste Instanz zu definieren – hier kommen sie so beiläufig-federleicht daher wie ein heiteres Liedlein.

Überhaupt findet man häufig einen liedhaften Ton angeschlagen, der einen sofort gefangennimmt. Anna Zepnicks sicheres Gespür für Rhythmus hat womöglich mit ihrer Tätigkeit zu tun: Als studierte Klavierspielerin begleitet sie andere bei Liederabenden. Gestalten und Motive aus klassischer und biblischer Mythologie reichern ihre Texte an.

Die Raben aus dem Titel des Bandes begegnen uns mehrfach. Mal unheimlich, mit unangenehmem Gekrächz. Dann wieder nickt uns einer vertraulich zu. Und ihre Stimmen können sogar schön klingen: wie »rabensopran« oder eben »rabensingen«.

 

Anna Zepnick: »rabensingen«. Poetenladen, Leipzig 2024. 120 S., 19,80 Euro.

Ein Artikel für Dresdner Neueste Nachrichten (DNN) Kultur vom 5. September 2024.

Die Buchpremiere mit der Dichterin findet am 6. September, 19.30 Uhr, in der Buchhandlung Lesezeichen, in der Dresdner Neustadt, Prießnitzstr. 56 statt. Zur Veranstaltung