Es ist eine Liebesgeschichte zwischen einem jungen Ostdeutschen und einer Polin, die uns der 1960 in Dresden geborene Autor Hans-Haiko Seifert in seinem autobiografisch geprägten Debütroman Joanna erzählt. In Warschau spielt sie, 1980, mitten im Jahr des politischen Aufbruchs dort. Dass sich einer so intensiv auf unser östliches Nachbarland einlässt, ist bemerkenswert.
Bei ihm erfahren wir viel über den Alltag, die Eigenarten der Menschen dort zu jener Zeit und wie deren Freiheitswille und ihr Talent zur Selbstorganisation auf einen wirken, der die bleiernen DDR-Zustände als Erfahrung mitbringt. Allein das lohnt die Lektüre. Auch wenn dieses Buch literarisch nicht der große Wurf ist.
Es lebt von der Faszination seines Erzählers, Georg, der als 22-Jähriger aus Dresden zum Mathematikstudium nach Polen geht. »Wo sollte ich denn sonst hin?«, meint er. »Das Wichtigste war doch, nicht zu bleiben.« Er lernt Polnisch, will verstehen, wie anders sie dort denken. Schon 1979, als er ankommt, gärt es unter den Studenten. Die organisieren eine Untergrunduniversität mit illegalen Vorlesungen, helfen den streikenden Arbeitern. Papiere werden heimlich vervielfältigt. Georg ist gleich mittendrin. Er macht die Erfahrung: »In Polen gingen wirklich Dinge, die in meinem schlafenden Land undenkbar waren.«
Mehr als für Mathematik begeistert er sich für Dichtung, Malerei, Musik, schwärmt für Heine, Hölderlin, entdeckt polnische Dichter, erlebt eine experimentierfreudige Kunstszene, Theateraufführungen, klassische und moderne Musik.
Das bringt ihn mit Joanna, der schönen Cello-Studentin zusammen. Die vertieft sich in die Dichtung von Novalis, interessiert sich für Philosophie und Mystik. Viel kompromissloser und mutiger als Georg ist sie, folgt ihrem Grundsatz: »Wir haben es selbst in der Hand: Dreck oder Himmel sein.«
Georg ist für alle der Deutsche und sieht sich mit seiner Geschichte konfrontiert. Von seinem Großvater, den er nie selbst erlebte, bekommt er ein Foto in die Hand. Es zeigt ihn in SA-Uniform. In Warschau erzählt ihm eine Musikerin, wie die deutschen Besatzer das Chopin-Denkmal einschmolzen. In einer traumhaften Szene meint er seinen Großvater als SS-Mann zu sehen.
Zusätzlich baut der Autor in den Roman, den er aus 67 Erzählungen zusammensetzt, die jüdische Historie ein. Auf phantastische Weise, in Begegnungen mit einem alten, Jiddisch sprechenden Mann, der ihm Rollen mit Zeitungsrändern zusteckt. Auf denen hat Mendel Chajmowicz Grynsztajn sein Leben zwischen 1938 und 1943 notiert. Aus Drohobycz stammt der, wie der jüdische Schriftsteller Bruno Schulz, dem der Autor hier huldigt. Mit der übrigen Handlung verbindet sich das allerdings kaum schlüssig.
Eine Schwäche des Romans: Zu wenig entwickelt sich mit innerer Notwendigkeit aus den Figuren heraus. Zu oft werden Zufälle strapaziert, damit es in die gewünschte Richtung läuft. Etwa bei den Auftritten von Sibylle, der selbstbewusst zupackenden Studentin aus dem Harz, die Joanna Georg streitig zu machen versucht.
Ihre Zerreißprobe erlebt die heiße Sommerliebe zwischen Georg und Joanna, als sie ihr Musikstudium in Düsseldorf fortsetzen will. Man staunt schon sehr, wie es Georg, den DDR-Pass in der Tasche, mit ihr per Flugzeug dorthin schafft. Kaum im Westen, begreift Joanna, dass sie zu Hause gebraucht wird, um die polnische Solidarnosc-Bewegung zu unterstützen. Doch selbst da gelingt es einem Freund, Georg im Transporter wieder zurück nach Warschau zu schmuggeln. Auch sonst geschieht viel Wundersames, damit sich alles fügt.
Allerdings stößt man immer wieder auf vielsagende Szenen. Etwa, wenn Joanna in Düsseldorf über ein vegetarisches Restaurant staunt: »Unglaublich. Und bei uns in Polen hat wegen Fleisch eine Revolution begonnen!« Diese Joanna öffnet dem atheistischen Georg einen Zugang zum polnischen Katholizismus. Da gibt es Gespräche über Vertrauen, Glauben an ewiges Leben, der einem die Angst nimmt. Es geht auch um den Mut zu eigenen Entscheidungen. Am Ende sind es die Polen, die dem zaudernden Georg dabei helfen.
[i] Hans-Haiko Seifert: Joanna. Roman. Thelem Verlag. 400 S., 24,80 Euro.
Der Text erschien erstmalig in den Dresdner Neuesten Nachrichten DNN.