Tomas Gärtner, Foto: privat
11.08.2021
Literaturnetz Dresden

Menschen hinterm Buch: Der Literaturkritiker

Tomas Gärtner schreibt über Magisches und Unsagbares

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Vollzeitjob oder Ehrenamt – Literatur ist Berufung! Buchbotschafter setzen sich für das gedruckte Wort ein und verbinden Menschen mit Literatur, auf originellen Wegen … Wir sprechen mit leidenschaftlichen Lesern über Idealismus, Herausforderungen und Kraftquellen.

Tomas Gärtner schreibt seit den 90er Jahren freischaffend für die Dresdner Neuesten Nachrichten DNN über literarische Neuerscheinungen und Veranstaltungen. Daneben ist er für die evangelische Wochenzeitung »Der Sonntag« aktiv und arbeitet christlichen Pressediensten zu. Menschen und ihre Geschichten sind für ihn faszinierend, dabei scheut er keine Abgründe.  

Wie geradlinig war Ihr Weg in den Journalismus?

In meinem Elternhaus gab es viele Bücher – meine Mutter war Lehrerin. Die Literatur faszinierte mich so sehr, dass ich ihr möglichst viel Zeit widmen wollte. Ich studierte darum in Leipzig Germanistik und Literaturwissenschaft. Nach meinem Diplom im turbulenten Herbst 1989 schloss ich ein Forschungsstudium mit Promotion an. Aber dieser weltfern-theoretische Umgang mit Belletristik in der Literaturwissenschaft stürzte mich in eine Sinnkrise. Ich musste weg von der Uni. Journalist werden wollte ich schon immer, aber ich glaube, dass Schreiben eher ein Handwerk ist, das eine Lehre in der Praxis braucht, keine akademische Ausbildung.

Sie suchten damals schon das Besondere in der Literatur …

In meiner Dissertation befasste ich mich mit utopischen Elementen bei Christa Wolf. Es war ein Versuch, die Grenzen der Literaturwissenschaft zu überschreiten und philosophische Aspekte zu untersuchen. Damals gab es einen Diskurs, wie sinnvoll es überhaupt ist, ideale Gesellschaften zu entwerfen. Die Suche nach der anderen Möglichkeit, die Frage, unter welchen Umständen wir menschlich leben können, fand ich spannend.

Wirft gute Literatur diese Fragen auf?

Gute Literatur hat immer eine gewisse Magie. Nehmen wir die Werke des ehemaligen Stadtschreibers Catalin Dorian Florescu; dort gibt es immer einen Moment, in dem ich als Leser nicht mehr merke, dass ich Schrift aufnehme, weil in meinem Kopf ganz von selbst Bilder entstehen. Ich gerate in einen Fluss, der mich aus mir selbst heraus assoziieren lässt. Zuerst nahm ich an, im Text müssten besonders detaillierte Beschreibungen stehen, aber es war genau das Gegenteil: Ideen werden angestoßen, und meine Fantasie füllt den Raum. Ich schätze Autorinnen und Autoren, die auf mein Mitdenken und meine Kreativität vertrauen.

Ihr Werdegang erscheint ideal, um über Literatur zu sprechen und sie zu beurteilen …

Dabei habe ich nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen neu lernen müssen! An der Universität war das naive Lesen verpönt, wichtig war die literaturtheoretische Einordnung. Dabei ist das doch das normale Vorgehen aller Leser: Man greift zu Lektüre, die einen anspricht, und lässt sie auf sich wirken. So entstehen Bezüge zu eigenen Lebenserfahrungen. Wenn ich heute über Bücher schreibe, versuche ich immer, mir meiner persönlichen Eindrücke bewusst zu werden – und gleichzeitig zu analysieren, weshalb ich so empfinde: Wie hat die Autorin oder der Autor das geschafft?

Sehen Sie sich als Botschafter für Literatur?

Vielleicht eher als Hinweisgeber, jemand, der Themen Aufmerksamkeit verschafft. In erster Linie möchte ich ein qualifizierter Leser sein und anderen zeigen, was mich fasziniert. Ich bin ein privilegierter Mensch – ich übe meinen Traumberuf aus! Aber beim Lesen nehme ich prinzipiell eine Haltung von Ehrfurcht ein: In jedem Werk steckt viel Arbeit, ein Mensch öffnet sich dadurch und macht sich verletzbar. Es ist riskant, in die eigene Psyche zu schauen, doch auch dunkle Seiten sind wichtig. Vor allem das Ringen um die perfekten Worte würdige ich sehr; je mehr Zweifel und Hinterfragen da ist, desto mehr Wert erreicht das Werk.

Wie gehen Sie mit schlechter Literatur um?

Wenn ich mich ärgere, mache ich das auch deutlich. Mit Zynismus kann ich beispielsweise nichts anfangen. Bei dürftigen Werken habe ich nach dem Lesen das Gefühl, mir geistig den Magen verdorben zu haben. Ich fühle mich dann ziemlich mies, als hätte ich Lebenszeit verschwendet, und habe für solche Fälle literarische Rettungsboote auf dem Nachttisch – Kafka zum Beispiel. Nach der Lektüre ist mein Glaube dann wieder hergestellt: Ich erlebe, was gute Literatur kann.

Sehen Sie eine Zukunft für die Printmedien?

Die Zeitungen befinden sich schon länger in einer krisenhaften Situation, sie sind im Umbruch. Mit abwandernden Leserschaften sinken die Auflagen, aber Einsparungen tun den Ressorts nicht gut. Meine Hoffnung ist, dass das Besondere jeder Zeitung erhalten bleibt: Bei den DNN gibt es in der Kulturredaktion beispielsweise nur zwei fest angestellte Redakteure, mehr als 90 Prozent sind freischaffend. Dadurch sind im Team viele kundige Spezialisten vertreten, deren großer Erfahrungsschatz bereichert die Kritiken. In den Zeitungen, auch wenn es weniger sind, sollte sich auch zukünftig kultureller Reichtum abbilden.

Welches Werk möchten Sie gern empfehlen?

Ich hatte einen Erweckungsmoment, als ich mit 16 »Hundert Jahre Einsamkeit« von Marquez las. Der realistische Blick vermischt sich hier mit etwas Phantastischem, das aber ganz selbstverständlich wirkt. Man findet so etwas auch in Bulgakows »Meister und Margarita«: Dort ist ein zufälliger Passant eben der Teufel, und das erscheint völlig logisch. Auch Sibylle Lewitscharoff hat diese Momente und ist sprachlich ganz großartig! Solche Bücher lese ich gerne mehrfach. Auch Lyrik bedeutet mir viel: Das Überschreiten der Grenze des Sagbaren gibt mir Sprachbewusstsein. Aber es ist schwer, darüber zu schreiben – man fürchtet immer, dem Großartigen nicht gerecht zu werden …

Das Interview führte Josefine Gottwald

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