Autor Volker Sielaff, Bild: privat
27.03.2023
Volker Sielaff

Salon des Zufalls: »Carpe diem!«

Eine literarische Kolumne

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Volker Sielaff schreibt in dieser Kolumne, immer ausgehend von einem Zitat, über »Meilensteine« der Literatur genauso wie über Zufallsfunde: Über bekannte und vergessene Bücher, über Marcel Proust und Horaz. Im zweiten Teil geht es um ein »geflügeltes Wort«, das vermutlich jeder kennt.

Ein Ausspruch, jeder kennt ihn, jeder hat ihn schon einmal gehört. Er geht auf den römischen Dichter Horaz, mit vollem Namen Quintus Horatius Flaccus, zurück. Der lebte von 65 v. Chr. bis 8 v. Chr. und war ein Zeitgenosse von Vergil, mit dem er auch befreundet war. »Carpe diem« ist ein geflügeltes Wort und Horaz’ zweifellos populärster Ausspruch, der sich bis heute tapfer in unserer Alltagssprache hält. Die verbreitetste Übersetzung ins Deutsche lautet: »Nutze den Tag!« Aber ist es auch die beste, treffendste?

Die Worte finden sich im ersten der vier Odenbücher des Dichters Horaz, in der 11. Ode, die den Titel An Leuconoe trägt. In der letzten Zeile dieses kurzen Gedichts heißt es (wir zitieren im Original): »carpe diem quam minimum credula postero«. Johann Gottfried Herder hat das so übersetzt: »Pflücke den Tag, traue dem Morgen nicht.« Herder, der mit seinem Werk die Aufklärung des 19. Jahrhunderts einleitete, hatte in seinem Lateinwörterbuch nachgeschaut und alle möglichen deutschen Entsprechungen für das harmlos scheinende Wörtchen gefunden. Was konnte dieses carpe nicht alles bedeuten: pflücken, rupfen, abweiden, abfressen, durchwandern, durchfliegen, sich verzehren, teilen, nutzen, genießen. Herder hat sich für die blumige Formulierung entschieden: Man solle den Tag »pflücken« – wie der Wanderer eine ihn am Wegesrand betörende Blume. Den Tag nur zu »nutzen«, das mag dem berühmten Sammler von Volksliedern aus aller Welt zu pragmatisch erschienen sein.

Das besondere an Horaz ist, dass uns von ihm – im Gegensatz zu vielen anderen antiken griechischen und römischen Lyrikern – fast das gesamte Werk überliefert ist, unbeschädigt und ungekürzt, so wie der Dichter selbst es für die Erstpublikation vorgesehen hatte. Er war als junger Mann – nicht selten in dieser Zeit – im Krieg und nahm auf republikanischer Seite an der Schlacht bei Philippi teil. Brutus und die Cäsarenmörder wurden dort von Octavian (dem späteren Kaiser Augustus) und Marcus Antonius besiegt. Horaz war auf der Verliererseite, an öffentliche Ämter somit zunächst nicht mehr zu denken. An diesem Punkt seines Lebens begann Horaz zu schreiben. Obwohl die Partei Octavians ihn, wie Sueton uns berichtet, 43 v. Chr. rehabilitierte, schien in Horaz eine »innere Wandlung« vor sich gegangen zu sein. Er wollte nun nur noch eins, Dichter sein. Durch seine ersten Verse, auf die Vergil aufmerksam geworden war, gewann er schnell die Gunst des Maecenas, der ihm ein Landgut in den Sabinerbergen schenkte.

Zwischen 35 und 33 v. Chr. ist das 1. Buch der »Satiren« erschienen, 30 v. Chr. die »Epoden« sowie das 2. Buch der »Satiren«. Das erste Buch der »Oden«, in dem sich auch die Stelle mit dem »carpe diem« findet, kam im Jahre 26 / 25 v. Chr. heraus. Die »Satiren« sind ein wenig ausschweifend, »ein einziges Geplauder«, gibt Heiner Müller in seinem Buch »Krieg ohne Schlacht« zu Protokoll. Die Oden aber sind reine Dichtung, und es ist jammerschade, dass nicht etwas mehr als jenes »carpe diem« es in unser Alltagsbewusstsein und unsere Alltagssprache geschafft hat!

Wer war nun aber jene Leuconoe, an die sich Ode 1,11 richtet? In meinem Wörterbuch der Antike finde ich nur Ino Leukothea, und das war jene Tochter des Kadmos und der Harmonia, welche unter die Meeresgötter aufgenommen wurde und Odysseus den rettenden Schleier zuwarf, als er wieder einmal in Seenot war. Auch in der Horaz-Ausgabe aus dem Aufbau Verlag (Bibliothek der Antike, 1972) werde ich nicht fündig. Die Anmerkungen sind dort, verglichen mit anderen Ausgaben, eher dürftig. Also Horaz, Werke, Reclam Verlag 1968, schon arg zerfleddert. Auch nichts! Aber siehe da: In dem Buch Horaz – Dichter und Werk des Münchner Altphilologen Niklas Holzberg finde ich eine halbe Seite nur über Ode 1,11. Leuconoe muss demnach eine Freundin des Dichters gewesen sein. Holzberg deutet die Ode, die in manchen Übersetzungen auch den Titel Lebenskunst trägt, als Dokument einer List. »Sterndeuterei, meine Leuconoe«, heißt es im zweiten Vers, »braucht´s nicht«. Holzberg vermutet, Leuconoe habe nur versuchen wollen herauszufinden, wie es mit der Treue ihres Geliebten stehe: »Davon lenkt der Dichter durch seine Predigt über die richtige Haltung gegenüber der Zukunft ab. Weil alles, was morgen geschieht, im Dunkeln liegt, und es durchaus möglich ist, dass ich mich bald in eine andere verliebe, musst du auf jeden Fall heute mit mir ins Bett gehen«. Nach Holzberg wäre die Ode nicht mehr als ein Dokument raffinierter Überredungskunst. Wir wissen nicht, wie die Angesprochene darauf reagiert hat.

Man sollte jedoch nicht vergessen, dass Horaz ein Anhänger der Lehren Epikurs war. Dieser Philosoph predigte die Freiheit von starken Affekten, vom Schmerz, vom Zwang des Staates und der Angst vorm Tode. Die »Dauer der Lust«, welche er anstrebte, hing für ihn mit der Befreiung von jeglicher Leidenschaft zusammen. Nicht das ewige Leben, sondern die Seelenruhe zu Lebzeiten (Ataraxie) predigte Epikur; er war somit alles andere als ein Hedonist, wenngleich ihm dies oft nachgesagt wurde und bis heute anhängt. Vorstellbar ist, dass die verinnerlichten epikureischen Lehren Horaz dabei behilflich gewesen sein werden, Abstand zu Macht und staatlicher Repräsentation zu halten. »Acht Spiegel und kein Wort mehr von Brutus«, schreibt Heiner Müller in seinem Gedicht Leben des Horaz und spielt damit auf des Dichters Teilnahme an der Schlacht bei Philippi an. Horaz war als junger Mann in Brutus’ Dienste gekommen und ziemlich schnell Anführer einer Legion geworden. Aber nach dem unglücklichen Ausgang der Schlacht muss ihm klar gewesen sein, dass die Republik nicht mehr zu halten sein würde. Er verlor sogar sein kleines väterliches Erbgut, das der römische Fiskus ihm nahm. Die Dinge standen vorübergehend schlecht für Quintus Horatius Flaccus.

Einer der großen Horaz-Übersetzer ist ohne Zweifel Christoph Martin Wieland. In seiner Vorrede zur Ausgabe der Episteln (Horazens Briefe aus dem Lateinischen übersetzt, Dessau 1782, Bd. I) spekuliert Wieland darüber, warum Horaz den Antrag des Kaisers Augustus, als Privatsekretär in dessen Dienste zu treten, »unter dem Vorwand seiner schlechten Gesundheitsumstände« abgelehnt hat. Der Antrag war eine große Chance für den Dichter, zumal Horaz aufpassen musste, nicht »in den Verdacht einer geheimen Abneigung gegen die neue Staatsverfassung« (Wieland) zu geraten. Aber für den Epikureer in ihm muss das geschäftige Rom ein Graus gewesen sein. Es ging ihm ja von Jahr zu Jahr besser in seinem »Sabinum«, jenem Landgut, das so oft in den Gedichten vorkommt. Er konnte in aller Ruhe sein Werk vorantreiben. Was brauchte er noch Rom? Horaz suchte nicht nach größerem Glück, ihm genügte es schon, wenn – wie er es in der 18. Ode des 2. Buches ausdrückt – der Reiche zum Armen kommt: »… und Reiche suchen mich, der arm«. Er war als Dichter angesehen. Er hatte es geschafft.

So schlug Horaz das Angebot des Kaisers, in dessen Dienste zu treten, aus. Sueton hat aus drei »Handbriefen« des Augustus an Horaz zitiert. Der mächtige Kaiser ließ nicht locker. Und Horaz gab nicht nach.

An Leuconoe

Frag, o Mädchen, nicht mehr, Forschen ist hier Frevel, welch Ende dann
dir die Götter und mir stelleten; frag auch Babyloner nicht.
Dann ertrügest du wohl glücklicher, was einmal du tragen mußt?
Gönne Iuppiter dir mehrere, sei’s jetzo das letzte Jahr,
das im Sturme sich dort am Gestad felsiger Ufer bricht:
Sei du klug und genieß. Koste den Wein. Schneide dem kurzen Raum
lange Hoffnungen ab. Eben anitzt, unter Gesprächen fliegt,
fliegt die neidende Zeit. Pflücke den Tag, traue dem Morgen nichts.

Deutsch von Johann Gottfried Herder

 

Lebenskunst

Frage nicht – denn du darfst wissen es nie – was für ein Ende Gott
Mir und dir hält bereit! Sterndeuterei, meine Leuconoe,
braucht’s nicht. Besser, du trägst jedes Geschick, wie es auch aussehen
wird.
Ob mehr Winter gewährt Jupiter noch, ob es der letzte ist,
der Tyrrhenischen Meers Wogengetos klippenbewehrt jetzt bricht:
Zeig dich weise und klug, kläre den Wein, hoff nicht auf Zukunftsglück,
denk ans Heute vielmehr! Feindlich entflieht hier beim Gespräch die Zeit:
Greif dir lieber den Tag, schenk kein Vertrauen dem, der erst morgen
kommt!

Deutsch von Manfred Simon

Der erste von insgesamt fünf Teilen der Serie ging der Frage nach, warum wir auch von schlechten Büchern etwas lernen können: Salon des Zufalls: »Deutsche Teilung«