Volker Sielaff, Foto: Anja Schneider
08.08.2023
Volker Sielaff

Salon des Zufalls: »Kein Lesen ist der Mühe wert, wenn es nicht unterhält.«

Eine literarische Kolumne

Zurück

Volker Sielaff schreibt in dieser Kolumne, immer ausgehend von einem Zitat, über »Meilensteine« der Literatur genauso wie über Zufallsfunde: Über bekannte und vergessene Bücher, über Marcel Proust und Horaz. Im vierten Teil geht es um ein literarisches Genre, das nicht nur der Schriftsteller William Somerset Maugham glänzend beherrschte: die Kurzgeschichte.

Wer heute Kurzgeschichten schreibt, darf nicht mehr auf Zeitungen und Zeitschriften hoffen. Dort hat die mehr oder weniger gute Reportage sie fast vollständig verdrängt, für fiktionale Texte scheint es keinen Platz mehr zu geben, und wer sich ihnen dennoch zuwenden will, sollte sich doch am besten gleich einen dicken Roman kaufen. Verlage sind längst dazu übergegangen, aus verkaufstechnischen Gründen auf alles, was mehr als vierzig Seiten lang ist, das Etikett »Roman« zu kleben. In Deutschland schaffen es Erzählungen fast nie auf die Bestsellerlisten oder in die engere Auswahl großer Literaturpreise. Der short-story, so der ursprüngliche, aus dem englischsprachigen Raum stammende Begriff, dem das deutsche Wort »Kurzgeschichte« entlehnt ist, scheint es nicht besser zu gehen, als der Poesie: Sie wird vom Medienbetrieb weitestgehend ignoriert. In Italien oder Spanien wissen die Leser diese Gattung eher zu schätzen, man denke nur an die wunderbaren Geschichten eines Italo Calvino, dessen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht, der aus lauter Anfängen besteht, in Wahrheit ein verkappter Erzählungsband ist. Oder an Quim Monzo, der seine Karriere als Kriegsberichterstatter begann, dann Comiczeichner, Grafiker und Drehbuchautor wurde und heute zu den unangefochtenen Meistern der modernen spanischsprachigen short-story gehört. Auf Deutsch gibt es von ihm unter anderem einen schmalen Band mit dem Titel Hundert Geschichten, was darauf hindeuten mag, dass er meistens nur wenige Seiten braucht, um das Wesentliche zu erzählen.

Was mir an Kurzgeschichten gefällt, ist ihre Augenblicksfixiertheit. Man ist sofort mittenmang in einer Geschichte, die längst begonnen hat, gerade so, als platze man unvermittelt in einen Raum hinein, in dem sich bereits mehrere Leute befinden. Ein Stimmengewirr, das es für den Hinzugekommenen erst zu entwirren gilt. Mir genügen bei einer Kurzgeschichte oft schon die ersten Sätze, um zu entscheiden, ob ich die Geschichte zu Ende lesen will. Mit dem Roman kann man nicht flirten, er will seine Leser ganz oder gar nicht, er ist fordernd und auch ein wenig tyrannisch, wobei seine ausgeklügelte Tyrannei vor allem darin besteht, dem Leser alles bis zu Ende zu erklären und ihn nicht selber denken zu lassen. Der Roman will eine Opfergabe von mir: die der Zeit, meiner Zeit! Dabei ist er unerbittlich. Eine Kurzgeschichte aber fordert von mir nicht viel mehr Zeit, als ich beispielsweise für den Verzehr eines Cocktails in einer Strandbar brauche. Die Kurzgeschichte ist ein wenig leichtlebig, doch soll man sich nicht täuschen lassen: Wenn sie gut ist, geht sie auch aufs Ganze! Die abgründigsten Leidenschaften können in einem einzigen Augenblick kulminieren, und aus einem scheinbar seichten Gespräch kann sich umgehend ein Konflikt entwickeln. Es ist das plötzliche Aufblitzen der Tücke des Subjekts, woraus die Kurzgeschichte ihr größtes Kapital schlägt. Personen nähern sich in Lichtgeschwindigkeit einander an, und was der Roman noch lang und breit entwickeln muss – alles Große, Bedeutungsvolle und Abstrakte – darauf kann die Kurzgeschichte leichthin verzichten. Der ausgeklügelte Weltentwurf des Großschriftstellers – hier wird er an die Seitenlinie, in den Schatten eines so kurzen, dramatischen wie unschuldig daherkommenden Moments verbannt, auf den die Geschichte nun zusteuert.

Ich bekenne mich, ein leidenschaftlicher Leser von Kurzgeschichten zu sein. Unlängst habe ich mir aus einer Bahnhofsbuchhandlung ein Bändchen Südseeerzählungen von William Somerset Maugham mitgenommen. Ich kenne mich im Kosmos dieses Schriftstellers ein wenig aus. Es gibt in dem Bändchen unter anderem eine Geschichte mit dem harmlos klingenden Titel Regen. Der Regen dient hier als Metapher für die Abgründe der menschlichen Seele, welche dieser Schriftsteller glänzend auszuloten vermochte. Regen, eine der bekanntesten Erzählungen Somerset Maughams, ist die Geschichte des christlichen Missionars Davidson, eines religiösen Eiferers, der getrieben von seinem Glauben versucht, auf den Inseln alles Sinnliche und Lebendige auszurotten: Die traditionelle Kleidung der Eingeborenen, ihre Tänze, ihre Musik, alles ist für ihn »des Teufels«, alles soll seinem puristischen Weltbild geopfert werden. Dieser fleißige Mann ist auch ein begabter Intrigant. Als er in Pago Pago der Prostituierten Miss Thompson begegnet, die dort einer Haftstrafe zu entgehen versucht, beginnt er, mit allen Mitteln das vermeintliche Böse aus ihr austreiben zu wollen. Und steigert sich in einen Wahn, der zuerst religiös, dann sexueller Natur ist. Er wird übergriffig gegenüber der Frau und begeht schließlich aus Scham Selbstmord. Die Geschichte wurde 1953 mit dem Schauspielstar Rita Hayworth in der Hauptrolle und unter dem Titel Miss Sadie Thompson verfilmt. Diese Musicalverfilmung, auf die auch die amerikanische Zensurbehörde ein wachsames Auge hatte, ist leider dramaturgisch ein veritabler Langweiler. Denn alles darin wird auserzählt und sogar eine Liebesgeschichte zwischen einem US-Marine und der Prostituierten hinzuerfunden, die es in Somerset Maughams Erzählung nicht gibt.

Es sind ja gerade die Auslassungen, die dramaturgischen Kniffe und Schnitte, die Somerset-Maugham so meisterlich beherrscht, so dass beim Lesen seiner Geschichten nie Langeweile aufkommt und man sich köstlich unterhalten fühlen darf. William Somerset Maugham wurde 1874 in der Britischen Botschaft in Paris geboren und 1965 in Saint-Jean-Cap-Ferrat in der Nähe von Nizza verstorben. Wie sein berühmter Kollege Graham Greene, arbeitete er zeitweilig für den MI6, den britischen Geheimdienst, der für nicht wenige Schriftsteller ihrer Zeit eine Art gutfrequentiertes Reisebüro gewesen zu sein scheint. Auf Fotografien sieht Somerset Maugham stets ein wenig dandyhaft aus, jedenfalls wusste er sich zu kleiden. Als der Dichter dem Fotografen Cartier-Bresson für die Agentur Magnum Einlass in seine Villa gewährte, war der alte Herr ganz in Weiß: Weißes Hemd, weiße Hose, weiße Espadrilles. Er sitzt auf einem Stuhl und hat kokett das linke Bein angezogen. Er blickt streng, die nach unten gebogenen Mundwinkel verraten einen skeptischen Menschen.

 

Der dritte von insgesamt fünf Teilen der Serie beschäftigte sich mit einem berühmten Ausspruch des amerikanischen Dichters William Carlos Williams: Salon des Zufalls: »no ideas but in things«