Volker Sielaff, Foto: Anja Schneider
18.05.2023
Volker Sielaff

Salon des Zufalls: »no ideas but in things«

Eine literarische Kolumne

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Volker Sielaff schreibt in dieser Kolumne, immer ausgehend von einem Zitat, über »Meilensteine« der Literatur genauso wie über Zufallsfunde: Über bekannte und vergessene Bücher, über Marcel Proust und Horaz. Im dritten Teil geht es um einen berühmten Ausspruch des amerikanischen Dichters William Carlos Williams.

Nur wenige Male im Leben trifft einen eine dichterische Stimme wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Das hat zum einen mit der Originalität und Unverwechselbarkeit dieser Stimme, zum anderen aber auch mit einem selbst zu tun: Mit dem Fundus an eigenen Leseerfahrungen, über den man verfügt und nicht minder mit den Leerstellen, den blinden Flecken, der »terra incognita«, dem unentdeckten Gelände, das vielleicht noch auf einen wartet.

Dass ich bei meinen ersten poetischen Welterkundungen weit in die Ferne schweifte, bis nach Chile, hatte zweifellos mit den räumlich auferlegten Grenzen meiner Ostsozialisation zu tun, die ich zumindest lesend zu überwinden versuchte, zum anderen aber auch damit, dass der von mir damals beinahe rauschhaft konsumierte Dichter ein bekennender Kommunist war und somit keiner, dessen Werke man erst über die deutsch-deutsche Grenze schmuggeln musste. Die Bücher Nerudas erschienen im Staatsverlag Volk und Welt, sein Werk war für mich, den Dorfjungen ohne Westverwandtschaft, mühelos greifbar. Und bis heute halte ich Neftali Ricardo Reyes Basualto – so sein bürgerlicher Name – für einen großen Dichter. Einen, der sich verrannt hatte, sich sogar noch darin gefiel, dass er »das Dunkel der Klarheit geopfert« – und im Übrigen leider davon träumte, die Dichtung könne eines Tages mehrheitstauglich werden. Es waren nicht seine Schmähungen des bürgerlichen Literaturbetriebs im Canto General (»Was tatet ihr denn, Gideaner / ihr Intellektualisten, Rilkeaner / Verdunkler des Daseins, unwahre existenzialistische / Gaukler«), auch nicht der Strom Parteilyrik, welcher während der letzten Jahre der stalinistischen Ära aus seiner Feder floss – es war der leidenschaftliche Einsame seiner frühen Liebeslyrik, der unerschöpfliche Reichtum einer »Dichtung, die nach Urin und weißen Lilien riecht«, die »unrein wie ein Anzug« ist, es war diese dunkle Fülle einer unverwechselbaren Sprache, die mich damals begeisterte und erschüttert haben muss.

Nerudas Stimme, das waren Melancholie und Weltliebe und ein lyrisches Ich, dass sich hochmütig, schlaflos und überwach zeigte, ohne Kalkül, ohne dichterisches Programm. Etwas Genialisches und Naives – auch jene Art von Naivität, die den Dichter wohl in die Arme des Weltkommunismus getrieben hatte – lag für mich in dieser Stimme. Enzensberger hat über Nerudas Idiom geschrieben: »Eine uralte poetische Kategorie, die von der
klassischen Ästhetik seit jeher ignoriert worden ist, kommt darin zu ihrem Recht: die des Tonfalls. Kein metrisches Gesetz, sondern der Tonfall bestimmt den Rhythmus dieser Texte. Er wechselt fortwährend, auch innerhalb des Gedichtes; Feststellung, Vorschlag, Parenthese, Bericht, Beschwörung, Frage, Anrufung, Litanei, zweifelnde und meditierende, brütende und bohrende, klagende, fordernde, suchende Stimme: ein und dieselbe in fortwährender Verwandlung.«

Und natürlich versuchte ich in meinen frühen Versuchen, diese einzigartige Stimme zu imitieren. Das Gedicht Umgeben in meinem ersten Buch, Postkarte für Nofretete, ist ganz Neruda abgeschaut. Es steht am Ende meines Debütbandes, der 2003 im Verlag zu Klampen in wunderbarer Leinenausstattung herauskam, entstanden ist es aber bereits in den späten 80er Jahren. Was Postkarte für Nofretete beinhaltet, ist nicht weniger als eine Zäsur, und diese hat mit noch einem anderen Dichter zu tun, dessen Gedichte ich erst in den 90er Jahren für mich entdeckte: William Carlos Williams.

Die Poesie des Doktors aus Rutherford, New Jersey brachte mich zu mir selbst. Nachdem ich ihn gelesen, verbot ich mir für lange Zeit die Metapher. Wie ein Mönch, der sich ein Gelübde auferlegt hatte. Nicht zu sprechen, hieß bei mir: Sich keine an der lateinamerikanischen Poesie – und ein wenig auch an der sächsischen Dichterschule – angelehnten Metaphern mehr auszudenken, sondern genau hinzusehen. Sagen, was ist. Was man gesehen und gedacht hat, keine Ideen außer in den Dingen! Filmisch ausgedrückt: Keine Kostümfilme mehr, dafür aber eine übergenaue Kamera, die nur zeigt, was ist. (Ich kann hier vorwegnehmen, dass ich nach meinem Gelübde durchaus wieder zur Metapher zurückgefunden habe, mir die kleine Pause aber durchaus gutgetan und mich auf neue Wege geführt hat.) Was ich also entdeckte, war die wunderbare, einfache Schönheit der Dinge! Danke, Dr. Williams! Die Krämpfe ließen sofort nach. Ich konnte plötzlich Gedichte schreiben, die ohne gesuchte Vergleiche auskamen. Dieses gelassene Sprechen, es bekam mir gut. Der Ballast – auch eines an sich selbst zugrunde gegangenen politischen Systems – fiel von mir ab. So ist dann mein erstes Buch entstanden.

Wahrnehmungen, aus wenigen Worten gemacht. Manche seiner Gedichte bestehen aus nicht mehr als fünfzehn, zwanzig Worten. Er hatte ja auch
nicht viel Zeit. In seiner Autobiografie nennt er es »sein Gekritzel«: »Fünf Minuten lassen sich stets erübrigen. Die Schreibmaschine stand im Schreibtisch meiner Praxis bereit.« Schnell eine Zeile, einen Entwurf notieren. Mit dem Stift oder in die Maschine getippt. Dann der nächste Patient. Man könnte sagen: Er schrieb viele Gedichte und brachte zahllose Kinder zur Welt. Seine zwei Hüte habe er niemals als einander konkurrierend empfunden: Der eine Beruf sei die Ergänzung des anderen gewesen.

Williams, dessen frühe Gedichte noch »schlechter Keats, sonst nichts – oder doch, schlechter Whitman auch« waren, wie er in seiner Autobiographie bekennt (sein erster gedruckter Gedichtband ruhte zehn Jahre auf einem Balken unterm Dach eines alten Hühnerstalls, bevor eines Tages alles versehentlich ins Feuer geworfen wurde), lieferte sich lange eine Art Wettstreit mit Ezra Pound, dem Freund, Dichter und Antipoden. Pound war völlig anders gestrickt als Williams. Unstet, polemisch und immer mit verrückten Ideen im Kopf. Dem Freund warf er vor, dieser sei ungebildet und unbelesen. Was nicht stimmte: Williams hielt nur nichts von Pounds »Posiererei als Dichter«. Wäre Williams, wie Pound, Eliot und viele andere Amerikaner, für länger nach Europa gegangen: Es hätte dieses »Mündigwerden« der Neuen Welt im Gedicht so nicht gegeben und »die lyrischen Muster Europas, die importierten Tonfälle und Attitüden« hätten in der amerikanischen Dichtung die Oberhand behalten. Es brauchte schon einen starken Charakter wie Williams, um nicht weiter nur von den Versformen der alten Welt abzukupfern, sondern einen eigenen Weg zu finden. Pound ging nach Europa, um dort zu leben; Williams kam nur, um in Leipzig ein Semester Medizin zu studieren, Paris zu besuchen und Italien zu sehen. Später kam er noch einmal mit seiner Frau Floss nach Europa, das wars.

Am Anfang hatte er es nicht gerade leicht. Von den offiziellen Hütern der Literatur wurde William Carlos Williams ignoriert, seine Bücher von Kritikern und einflussreichen Kollegen verrissen oder falsch gedeutet. T. S. Eliot sprach von ihm als einem Dichter mit »einer gewissen lokalen Bedeutung«. Vielleicht nahm man ihn auch deshalb nicht ganz ernst, weil er sich nie ausschließlich seiner Dichtung verschrieb, sondern bis ins Alter weiter als Kinderarzt praktizierte. Bis heute goutiert die Kritik jenes ein wenig verstaubte Bild des von jeder anderen Arbeit unbeschmutzten »Berufsschriftstellers«. Der Preis solcher Reinheitsgebote ist nicht selten eine Literatur, die selbstreferenziell, weltfremd und sprachlich belanglos daherkommt.

Zwischen Neruda und Williams hat sich mein Dichterwerden abgespielt. Auf den ersten Blick haben die beiden nicht viel gemein. Neruda war zweifellos das wildere, ungestümere Temperament, Williams mehr der Typ des Pragmatikers. Neruda der Bohemien, Williams der Alltagsmensch. Man lese in seiner Autobiographie, wie er mittels eines Sacks voll Stangenschwefel und einigen Litern Alkohol einmal ein ganzes Krankenhaus von Wanzen befreite, sowie die anderen Geschichten aus San Juan Hill, einem damals berüchtigten Viertel, wohin es ihn als Praktikant in einer Entbindungs- und Kinderklinik verschlagen hatte. Neruda wuchs im Süden Chiles, in Temuco, auf. Es ist der Ort, wo die spätere Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral eine Schule leitete. Mistral hat Neruda einen »Mystiker der Materie« genannt. Das ist nicht falsch, denn Nerudas Gedichte zeigen oft einen von der Materie – der Vegetation seiner Heimat, den Metallen, den Dingen, allem Menschlichen – beinahe mystisch ergriffenen Dichter, der späterhin mit seinem Canto General versuchte, an den Universalismus eines Walt Whitman anzuknüpfen – und sich leider dabei verhob. Denn nicht alle dieser 15.000 Verse vermögen Whitmans Dichtung das Wasser zu reichen, und es bleibt das Problem Nerudas, dass er mit seinem Gesang zeitweilig »ganz Lateinamerika umfassen« wollte.

Man muss an den eigenen Kern herankommen, will man wirklich etwas Neues in die Welt setzen. Engagement allein reicht nicht aus. Es kann sogar im Weg stehen. Der Landarzt aus New Jersey namens William Carlos Williams kümmerte sich nicht um die lyrischen Muster Europas, die seine Kollegen Eliot oder Pound von ihren Reisen mitbrachten. Enzensberger schreibt dazu: »Die bedeutendsten Geister, ja gerade sie, waren hypnotisiert von der literarischen Tradition; sie bezahlten ihre literarischen Revolutionen mit dem Verlust ihrer amerikanischen Identität.« Die dichterische Stimme Nordamerikas wurde nicht Pound, nicht Eliot, sondern Williams, dessen Canto General den Titel Paterson trägt. Es ist sein längstes Gedicht und besteht aus Monologen, Dialogen, eingeschobenen Prosapassagen, Briefen, historischen Zitaten und allerlei anderem Treibgut. In seinem Tonfall ist es pathetisch, ironisch, humorvoll und sachlich zugleich. Williams beruft sich auf einen gewissen John Dewey, der gesagt haben soll: »Das Lokale ist das einzige Universale, auf dem alle Kunst sich gründet.« Paterson, eine von Holländern gegründete Industriestadt am Passaic River, wurde zum Epizentrum einer amerikanischen Dichtung, die sich von der europäischen Abhängigkeit gelöst und »eine poetische Sprache sui generis« (Enzensberger) geschaffen hatte.

In seiner Autiobiographie schreibt William Carlos Williams über Paterson: »Am Ende steigt der Mensch aus dem Meer, wo der Fluss seine Identität verloren zu haben scheint, und, begleitet von seinem treuen Hund, offenbar einem Chesapeake-Bay-Retriever, wendet er sich landeinwärts in Richtung Camden, wo der vielverleumdete Walt Whitman die letzten Jahre seines Lebens verbrachte und starb. Er hat immer gesagt, dass seine Gedichte, die der Vorherrschaft des jambischen Pentameters in der englischen Prosodie ein Ende machten, erst der Anfang gewesen seien. Dem stimme ich zu. An uns liegt es, damit fortzufahren, im neuen Dialekt, und die Silben neu zusammenzusetzen.«

 

Der zweite von insgesamt fünf Teilen der Serie beschäftigte sich mit einem »geflügelten Wort«, das vermutlich jeder kennt: Salon des Zufalls: »Carpe diem!«