Volker Sielaff, Foto: Anja Schneider
14.11.2023
Volker Sielaff

Salon des Zufalls: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.«

Eine literarische Kolumne

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Volker Sielaff schreibt in dieser Kolumne, immer ausgehend von einem Zitat, über »Meilensteine« der Literatur genauso wie über Zufallsfunde: Über bekannte und vergessene Bücher, über Pablo Neruda, William Carlos Willams und Horaz. Im fünften und letzten Teil geht es um den ersten Satz des Romans »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« von Marcel Proust.

Falls ich jemals wieder anfangen sollte, etwas zu sammeln – wie in der Kindheit Briefmarken, Mosaiks oder Fußball-WM-Bilder aus Sprengel-Schokoladentafeln – wird es aller Wahrscheinlichkeit nach eine Sammlung von Ausgaben der Recherche sein oder, auf Deutsch, von Marcel Prousts Roman-Mount-Everest Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Ich muss meine Affinität für den Buchstaben C gestehen. Das C hat mich schon immer magisch angezogen. Vielleicht, weil es einem unfertigen Kreis ähnelt und somit an das Unabgeschlossene, Unabschließbare gemahnt. In Buchhandlungen, Bibliotheken oder Antiquariaten suche ich immer zuerst den Buchstaben C auf, um meinen Blick über die dort einsortierten Buchrücken schweifen zu lassen: Celan, Camus, Cioran; Carson, Capote, Celine; Conrad, Cooper, Cardenal … Und ich konnte mir schon als Kind und Jugendlicher die fremdländischsten Namen sehr leicht merken. Sie müssen sich mir über den Klang eingeprägt haben, anders ist es nicht zu erklären. Denn es ließ sich wenig anfangen mit dieser Gabe: Oder was nützt es einem Zwölfjährigen, wenn er alle Spieler der peruanischen Fußball-Nationalelf aus dem Gedächtnis aufzählen kann?

Und dann: Ich muss Achtzehn oder Neunzehn gewesen sein, das erste Buch eines gewissen Marcel Proust! In diesem Fall war es nicht der Name des Autors, der so verlockend fremd und damit nur umso anziehender auf mich wirkte, sondern der Titel des Buches: Combray. Ein Taschenbuch, ich erinnere mich genau, mit farbig illustriertem Pappumschlag. Das Cover zeigte eine Reproduktion von Paul Cezannes Bild Große Kiefer und rote Erde. Ein einziges Glühen der Farben war das, wunderbar! Ich schlug das Büchlein auf und las den ersten Satz: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.« Es folgten des kindlichen Erzählers Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen beim Einschlafen, er beschrieb detailliert, wie die Gedanken in seinem Kopf nicht ruhen wollten, wie sie weiterrotierten, wie der Schlummer ihn überkam, er wieder erwachte und die Dunkelheit schaute, die ihm »erholsam« vorkam. In der Ferne hört er sodann das Pfeifen der Züge und schaut auf die Uhr: »Bald Mitternacht«. Ich erinnere mich heute nur noch daran, dass ich das Büchlein bald wieder zuklappte und zurück ins Regal stellte: Soviel Introspektion war mir damals zu viel. Die Sätze, die mit jeder Seite länger wurden, vermochten mich nicht zu fesseln. War ich nicht froh, dass meine Kindheit jetzt hinter mir lag? Das Leben erst richtig beginnen würde? Mir stand der Sinn wenig nach Geschichten aus der französischen Provinz, sondern aus den Metropolen der Welt: New York, Paris, London! (Dass die Handlung des Romans, auf den Spuren eines gewissen Swann, sich bald schon von Combray nach Paris verlagern würde, wusste ich noch nicht.) Wer war dieser Proust? Vermutlich deckte ich mich an jenem Tag, als ich Combray nicht weiterlesen wollte, mit Büchern von Ernest Hemingway, Henry Miller, Anaïs Nin oder Milan Kundera ein. Für Proust war es eindeutig zu früh.

Es vergingen Jahre, Jahrzehnte. Flughafen Amsterdam-Schiphol. Ich hatte zwei mir liebe Menschen besucht, nun ging mein Flieger zurück nach Dresden. Der erste Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Ich weiß heute nicht mehr, wie das Buch in mein Reisegepäck kam. Als ich meinen Platz am Fenster eingenommen hatte, schlug ich das Buch auf und las: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«. Die letzten Fluggäste verstauten gerade ihr Gepäck, ich hörte das Klacken von Sicherheitsgurten, Stimmen, Geräusche … Ich las diesen Satz und dann den nächsten: »Manchmal, die Kerze war kaum gelöscht, fielen mir die Augen so rasch zu, dass keine Zeit blieb, mir zu sagen: Ich schlafe ein.« Ich weiß nicht, wie mir geschah, aber in diesem Moment, im Himmel über Amsterdam, begann meine Proust-Lektüre! Als das Flugzeug auf der Startbahn beschleunigte und wir kurz darauf abhoben, hob auch ich kurz meine Augen vom Buch – und wartete. Nur einen Moment. Oder, wie Proust vielleicht sagen würde: Ein Quantum Zeit. Und dann – las ich weiter. Und weiter. Und weiter. Bis zur Landung – und lese bis heute, und immer wieder, in diesem Buch.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist ein Roman über das Abenteuer des Schreibens. Es ist auch ein Buch über das nicht schreiben können, denn erst am Ende des Buches hat der Erzähler sein Ziel erreicht und die Zeit »wiedergefunden«. Wer das Buch nie gelesen, dürfte wenigstens schon einmal davon gehört haben, dass die Erinnerungen des Erzählers von einer in eine Tasse Tee getauchten »Madeleine« (ein französisches Gebäck) hervorgerufen werden. Doch können wir die »Madeleine« getrost auch wieder vergessen! Ihr Charme ist ein wenig abgenutzt. Sie gleicht einer Prinzessin, deren beste Jahre für immer vorbei sind. Statt dieses Bild von der in den Tee getauchten Madeleine wieder und wieder zu bemühen und sich mit der Nennung dieses Wortes bei anderen als Proust-Kenner einzuschmeicheln, sollte man sich besser den letzten Band noch einmal vornehmen. Um zu verstehen, welch essentielle Bedeutung, »heraufbeschwört aus dem seichten Brunnen der unergründlichen Banalität einer Tasse«, wie der erst 25-jährige Samuel Beckett ein wenig lakonisch, jedoch nicht ohne Bewunderung vermerkte, der »Madeleine«, aber auch einer Baumreihe, einer Serviette, einem silbernen Löffel anhaften kann. Beckett hatte in seinen Essay Proust eine ganze »Liste der Fetische« aufgenommen, Beispiele für jenen »unvermittelten und zufälligen Akt der Wahrnehmung«, welcher im Schriftsteller letztlich die Erinnerung heraufbeschwört. Von »Kommunion« und »heiliger Handlung« spricht der irische Schriftsteller, von einem »Prozess des intellektualisierten Animismus«. Proust, ein literarischer Animist? Wer weiß.

Beckett hatte seinen Proust früh gelesen. Roland Barthes hat ihn früh gelesen. Von letzterem gibt es unzählige Karteikarten, bekritzelt mit Notizen aller Art. Ich habe Proust erst sehr spät gelesen, aber wenn man einmal damit anfängt, hört man nie wieder damit auf. Wenn ich nachts wach werde, nicht schlafen kann, greife ich nach dem Buch auf meinem Nachttisch. Ertaste mit meinen Augen einen dieser viel gehassten Endlossätze Marcel Prousts. Meist schlage ich das Buch an einer beliebigen Stelle auf und dann kommt mir vor, als hörte ich jemanden leise und in langen Satzperioden mir etwas zuflüstern. Und ich habe das Gefühl, dass es immer etwas mit mir zu tun hat, aber es drängt sich mir nicht auf.

Ich habe vor zwei Jahren angefangen, alle 7 Bände nacheinander zu lesen. Ich habe sie in verhältnismäßig kurzer Zeit gelesen, etwa innerhalb eines halben Jahres. Und ich habe in dieser Zeit angefangen, »meine« Proust-Sätze in ein Notizbuch zu übertragen. Einer der kürzeren Sätze meines privaten Proust-Breviers lautet: »Die wahren Paradiese sind die Paradiese, die man verloren hat.« Ein Kernsatz der »Recherche«. Aber Marcel Proust wollte diese Paradiese, indem er sie wie die Fliege im Bernstein, Satz für Satz für Satz, festhält und in gewisser Weise auch erst neu schafft, gar nicht verloren geben. Er hatte seine »Suche« lange aufgeschoben, aufschieben müssen, weil er noch nicht so weit war.

Proust schreibt darüber sehr präzise im letzten Band seines Romanwerks Die wiedergefundene Zeit: »Ich glitt sehr rasch über all das hinweg, denn weit zwingender rief mich die Aufgabe, den Grund jenes Glücks, jener Art von Gewissheit zu suchen, mit der sie sich aufdrängte, eine Suche, die ich früher stets verschoben hatte. Dieser Grund nun begann sich mir zu offenbaren, wenn ich jene beseligenden Eindrücke untereinander verglich, denn sie hatten untereinander gemeinsam, dass ich das Geräusch des Löffels an dem Teller, die Ungleichheit der Bodenplatten oder den Geschmack der Madeleine zugleich im gegenwärtigen Augenblick und in einem entfernten Augenblicke wahrnahm, und zwar in einem Maße, dass die Vergangenheit auf die Gegenwart übergriff und ich nicht mehr mit Bestimmtheit wusste, in welcher von beiden ich mich befand; in Tat und Wahrheit war es so: Das Wesen, das dann in mir diesen beglückenden Eindruck empfand, empfand ihn darin, was dieser zu einem früheren Zeitpunkt und jetzt an gemeinsamen hatte; es war ein Wesen, das nur dann in Erscheinung trat, wenn es aufgrund einer solchen Identität zwischen Gegenwart und Vergangenheit in das einzige Lebenselement versetzt wurde, in dem es existieren und die Essenz der Dinge genießen konnte, das heißt außerhalb der Zeit.«

 

Der vierte von insgesamt fünf Teilen der Serie beschäftigte sich mit einem literarischem Genre, das nicht nur der Schriftsteller William Somerset Maugham glänzend beherrschte: mit der Kurzgeschichte: Salon des Zufalls: »Kein Lesen ist der Mühe wert, wenn es nicht unterhält.«