Clemens Meyer, Foto von Gaby Gerster
21.10.2024
Karin Großmann

Schreiben auf vermintem Gelände

Clemens Meyer und »Die Projektoren«

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Mehr als zehn Jahre lang arbeitete der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer an seinem Roman über eine Welt, die aus den Fugen ist. Diese Woche liest er in Dresden. 

Sein neuer Roman ist fertig. Fast tausend Seiten. Die Arbeit von mehr als zehn Jahren. Sie habe ihn seelisch und körperlich an Grenzen gebracht, sagt der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer. Manchmal habe er Stimmen gehört, ohne zu wissen, wer spricht. »So was Dickes schreibe ich so bald nicht wieder.« Der 46-Jährige sitzt in seiner Schreibhöhle im Osten der Stadt. An der Tischlampe kleben noch einige Merkzettel. Notizbücher stapeln sich neben dem Laptop. Griffbereit liegt eine Autobahnkarte von Jugoslawien, dazu ein alter Stadtplan von Belgrad. Das wird nun nicht mehr gebraucht. Die Projektoren ist erschienen.

Der Titel meint Vorführgeräte im Kino und meint zugleich Menschen, die andere leiten, beeinflussen, Unruhe stiften und Schaden anrichten. Das verbindet sich im Roman. Zeiten und Räume gehen ineinander über. Flüchtlinge kommen über die Balkanroute, die Kara Ben Nemsi bereiste. Eine rechte Zelle in Zwickau nannte sich nach dem Abenteurer. Eines hat mit dem andern zu tun: Partisanen und Kommunisten, Terroristen und Neonazis, Gojko Mitic und Winnetou, Lex Barker und Marschall Tito, die Leipziger Psychiatrie und eine Spelunke in Zagreb, ein Cowboy und ein verwahrloster Offizier, der von einem NVA-Putsch zur Sicherung der DDR träumt. Liebe und Tod. Über allem irrlichtert Karl May, der sich einen Märchenerzähler nennt. »Er ist das Schmiermittel.« May und Meyer. Seelenverwandte. »Der Roman ist auch ein Statement für die Literatur, wie ich sie verstehe«, sagt Clemens Meyer. »Ein Bekenntnis zur Kraft der Fiktion und der Erzählkunst.« Die Gefahr, sich zu verzetteln und zu verlieren, sei ihm immer bewusst gewesen.

2014 schlossen Autor und Verlag den Vertrag für das Buch. Der Anfang liegt weiter zurück. Clemens Meyer erzählt, wie er 2008 mit dem Goethe-Institut im Bus durch Kroatien fuhr und erstaunt manchen Felsen im Velebit-Gebirge zu kennen meinte. Sein Kollege Edo Popovic klärte auf: Dort wurden in den 1960er-Jahren die ersten Winnetou-Filme gedreht. Anfang der 1990er-Jahre schlugen dort aber auch serbische und kroatische Einheiten aufeinander in den Bürgerkämpfen nach dem Kollaps von Jugoslawien. »Ich dachte gleich: Daraus muss man was machen«, sagt Clemens Meyer. Also schreibt er jahrelang an einem Epos über den Krieg – und als er fertig ist, rückt ein anderer Krieg näher und näher. »Der Roman ist aktuell, ja, leider«, sagt er, »auch wenn man die Ereignisse nicht vergleichen kann. Wieder sterben Zehntausende.« Er findet den Gedanken verstörend, dass deutsche Waffen Russland treffen könnten – zum ersten Mal nach 1945 waren deutsche Aufklärungsflugzeuge in Ex-Jugoslawien unterwegs. Im Roman zitiert er den bekannten Satz, dass sich Geschichte zweimal wiederhole: einmal als Tragödie, einmal als Farce. »Auch mein Roman ist beides.«

Das Arbeitszimmer ist vollgefüllt mit Bildern, Büchern, Platten, Devotionalien. Ein Foto zeigt Wolfgang Hilbig. Der Schriftsteller aus Meuselwitz zählt zu den Hausgöttern. Das kleine Holzpferd gehörte Christa Wolf. Deren Lektorin schenkte es Meyer. An dem Schreibtisch entstand bereits der erste Roman Als wir träumten über eine Jugend in der Nachwendezeit. Der zweite Roman Im Stein thematisierte Sexus und Geld, der dritte den Krieg. Clemens Meyer zieht eine Linie zwischen diesen Büchern. Es geht um Existenzielles, darum, was Menschen einander antun. Die literarischen Mittel ändern sich. Sprünge gab es anfangs schon. Überblendungen kommen hinzu, harte Schnitte, Wechsel von Tag und Traum. Der Schriftsteller Meyer hat viel vom Filmenthusiasten Meyer gelernt. Er kennt auch die Tücken des Materials. »Ich bewege mich auf vermintem Gelände.« Bloß keine Kriegsfolklore! Kein Voyeurismus!  Keine Kolportage! Er sei immer sensibler geworden, je mehr er sich mit den Kampfhandlungen in Jugoslawien in den Vierziger- und Neunzigerjahren beschäftigte. Er habe Kniffe gesucht, um die Grenzen des Beschreibbaren auszuweiten. »Ich sitze in meiner Leipziger Wohnung und habe den Krieg nie erlebt. Wer bin ich denn, dass ich darüber schreibe?!«

Er hätte das nie getan, sagt Clemens Meyer, ohne mit Menschen vor Ort zu sprechen. Mehrmals reiste er ins Velebit-Gebirge, nach Belgrad, Novi Sad, Karlovac. Und er sammelte. In den Bücherwänden der Schreibhöhle liegen Artefakte: ein schweres Metallschild der jugoslawischen Eisenbahn. Ein Zahn, den ein serbischer Schäfer einem Wolf ausbrach. Eine Silbermünze von 1938 mit Männerkopf. Alles kommt im Roman vor. »Wenn ich über Zeiten schreibe, die ich nicht erlebt habe, brauche ich solche Sachen, um mich anzunähern«, sagt Meyer. Ein teuer erworbenes signiertes Foto von Josip Broz Tito, der bis 1980 die Politik Jugoslawiens bestimmte, verbaute er inzwischen zu einer Collage. »Ich konnte ihn nicht mehr ertragen.« Manches Stück fand er auf dem Flohmarkt in Zagreb. Anderes im Internet. Ein kleiner Quirl mit eingebrannter Sonne im Stiel stammt aus dem Nachlass des Großvaters. Im Roman trägt ein Mann einen solchen Quirl immer bei sich, schnitzt Kerben hinein für die vergehende Zeit. Sie reicht bis in die Gegenwart.

Aus Zeitzeugnissen und Fotografien, aus Recherchen vor Ort und immensen Stapeln von Literatur wuchs der Text. Er schwang schon mit in der Dresdner Rede von Clemens Meyer 2022 und in seiner Kamenzer Rede. »Das entstehende Buch bildete das Hintergrundrauschen, das mein Leben ausgefüllt hat.« Ein Kapitel wurde vorab unter dem Titel Nacht im Bioskop veröffentlicht. Den Figuren habe er anfangs viel Zeit gegeben, den Roman lange vor sich hin köcheln lassen. Allein am ersten Kapitel feilte er ewig: Zwei Männer in einer Leipziger Irrenanstalt des 19. Jahrhunderts missverstehen einander im Sprachspiel, im »Wortplay«. Das Denglisch wird die Übersetzer freuen. Dr. May, heißt es, sei Patient der Anstalt gewesen. »Das ist einfach ausgedacht«, sagt Meyer. Mehr als die Hälfte des Manuskripts schrieb er in den letzten 14 Monaten. In dieser Zeit verfasste er aber auch das Drehbuch für den nächsten Polizeiruf 110 mit Peter Kurth und Peter Schneider und einen Band über Christa Wolf und die Literatur der DDR.

Zuletzt, sagt Clemens Meyer, schrieb er unter Hochdruck beinahe Tag und Nacht, am Schreibtisch, im Bett, im Frankfurter S. Fischer Verlag im Thomas-Mann-Raum. »Da wird einem bewusst, dass man dort ist, wo man immer sein wollte.«

 

Clemens Meyer liest am 22. Oktober im der Zentralbibliothek – die Veranstaltung ist ausverkauft (zur Lesung). 

Es werden schon jetzt Tickets für die Lesung am 9. Februar, 19 Uhr an den Landesbühnen verkauft, außerdem liest Meyer am 3. November, 11 Uhr, in der Chemnitzer Stadtbibliothek im Tietz.

 

Beitrag vom 30.07.24 mit freundlicher Genehmigung der Sächsischen Zeitung. Die Projektoren stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024.