Viktor Kalinke und das »Daodejing« (Bild: Tomas Gärtner)
10.05.2025
Tomas Gärtner

Vom Wert des Mehrdeutigen

Wie ein Leipziger Verleger chinesische Philosophie übersetzt

Zurück

Der Leipziger Schriftsteller Viktor Kalinke hat zwei Klassiker der chinesischen Philosophie übersetzt. Im Dresdner Stadtmuseum erklärt er, welch andere Weltsicht darin zu entdecken ist.

An allem war das Daodejing des Laozi Schuld. Als Abiturient, bei der ersten Lektüre in der Übersetzung von Ernst Schwarz, fing Viktor Kalinke Feuer. Gerade weil er viele Passagen nicht verstand, sich andere Übersetzungen besorgte – und noch weniger verstand. »Da begriff ich, dass ich das Original lesen muss.« Er fing an, nach einem Lehrbuch mit einem Pinsel chinesische Schriftzeichen zu malen.

Die anhaltende Begeisterung führte den 1970 in Jena geborenen Studenten der Psychologie und Mathematik, der selber Gedichte und Prosa schrieb, auch nach Peking. Und machte ihn zum Übersetzer.

Für seine zweisprachige Ausgabe suchte er nach einem Verlag, bekam eine Absage nach der anderen. So etwas sei deutschen Lesern nicht zumutbar, beschied man ihn. So wurde er schließlich zum Verleger; gründete 1998 mit Buchgestalterin Marion Quitz in Leipzig, wo er bis heute lebt, die Edition Erata, später umbenannt in Leipziger Literaturverlag.

Laozi sei der Begründer der chinesischen Philosophie – »indem er die westlichen Begriffe Kosmologie, Ontologie, Metaphysik, Psychologie, Ethik und Staatslehre in einem System zusammenführte«. So erklärt Viktor Kalinke im Dresdner Stadtmuseum in einer Mischung aus Lesung, Vortrag und Gespräch mit dem Dichter Volker Sielaff.

Im Daoismus gehe es um ein Zeichen: das Dao. Aber das habe ein riesiges Bedeutungsspektrum, unter anderem »Weg« oder »Straße«, sei aber nie vollständig auszudeuten. An einer Stelle sagt der Philosoph: »Über das Dao zu sprechen ist möglich, doch nicht als dauerhaft bleibendes Dao.«

Die altchinesischen Zeichen sind vieldeutig. Nicht das eine oder das andere sei richtig. Man brauche eine »synthetische Leseweise«, kein Entweder-Oder. »Der Witz ist, dass beides richtig ist.« Diese Mehrdeutigkeit sei die DNA des Daodejing. Die aber hätten die meisten der etwa hundert deutschen Übersetzungen beschnitten, indem sie sich nur auf jeweils eine mögliche Deutung festlegten. Deshalb seien sie so extrem verschieden.

Aber die Mehrdeutigkeit sei das Erfolgsgeheimnis, der Grund, warum dieser Text seit zweieinhalbtausend Jahren immer wieder neu interpretiert werden könne. Es gebe unzählige Übersetzungen ins moderne Chinesisch. »Sicher hat dieser Text eine Bedeutung. Aber die ist nicht entscheidend. Das Entscheidende ist: Ich kann den Text als Spiegel verwenden, meine eigenen Gedanken entzünden sich daran.«

Die »Bibel des Daoismus« verfasste Zhuangzi, der im 4. Jahrhundert vor Christus lebte. Das Buch bekam seinen Namen als Titel. In gleichnishaftem Stil und schillernder Erzählprosa handelt es vom Einfachen: der Freiheit, nichts Besonderes zu tun, der Freiheit, sich selbst zu folgen und der, mit der Natur zu leben. So fasst Viktor Kalinke zusammen.

»Wer weiß, dass er das Größte hat, sucht nicht danach«, lautet eine der Weisheiten darin. Eine weitere erklärt, dass Worte selbst keinen Wert haben, der liege allein in der Bedeutung. Die aber sei im Sprechen nie ganz auszudrücken. »Das Dao hat keine Grenzen, Worte haben keine Beständigkeit.« Auch Formen, Farben, Laute, Bezeichnungen reichten nicht, um die Natur zu verstehen. »Wer spricht, weiß es nicht.«

Auch Moralphilosophie stecke im Zhuangzi – »in einem undogmatischen Sinne«. Im Unterschied zu anderen Philosophen sei er nicht von Machthabern benutzt worden. »Das liegt an seinem anarchistischen Kern.«

Auch bei Laozi hat Viktor Kalinke einen entscheidenden Satz entdeckt: »Den Guten behandle ich gut. Und den bösen Menschen behandle ich ebenfalls gut.« Eine frühe Formulierung von Feindesliebe. »In der sehe ich den innersten ethischen Kern des Christentums. Und es ist der Kern von Zivilisation. Wir werden daran gemessen, wie wir mit den bösen Menschen umgehen. Das zeichnet eine humanistische Gesellschaft aus – oder eine Terrorgesellschaft.«

Zhuangzi könne man nicht in einem Zug durchlesen wie einen Roman. »Das sind kurze Anekdoten, Geschichten, eine, anderthalb Seiten lang. Meine Empfehlung ist: Dieses Buch beim Aufwachen aufzuschlagen und eine Seite zu lesen. Das reicht mindestens einen Tag.«

 

Laozi: »Daodejing« und »Zhuangzi«, übersetzt und herausgegeben von Viktor Kalinke, Gesamttext mit Materialien, chinesisch-deutsch, 700 bzw. 900 Seiten; je 124,95 Euro; »Zhuangzi« in Viktor Kalinkes Übersetzung auch bei Reclam als vollständige Ausgabe, 510 S., 14,80 Euro, sowie in Auswahl mit Erläuterungen, 96 S., 6 Euro

Der Text erschien erstmalig in den Dresdner Neuesten Nachrichten DNN.