Alexander Estis © Dominik Wolf
24.07.2025
Literaturnetz Dresden

Von der Subtraktion der Identitäten …

Der neue Dresdner Stadtschreiber Alexander Estis hat einen Blick für die surrealen Momente der Realität

Zurück

Ein genervter Geschäftsmann läuft zur Toilette, wo sich unter dem Händetrockner ein winziger Herr im Hawaiihemd mit einem Martini räkelt. Ein Adelsspross sägt mit der Nagelfeile geduldig an zwei Gitterstäben seines Anwesens, bis er durch die Lücke entkommen kann. Ein Museumsbesucher findet so viel Ruhe und Frieden vor einem Bild, dass er sich mit dünnem Pinsel in die ockerbraune Einöde hineinmalt. In allen drei Geschichten erzählt Alexander Estis von seltsamen Fluchten. Auch andere Texte von ihm laufen knapp an der Realität vorbei ins Surreale, Komische oder Groteske. Franz Kafka scheint ihm zuweilen über die Schulter zu schauen.

Wie kommt einer auf verrückte Ideen? Warum schreibt einer lieber kurze Texte statt dicker Romane? Wo fühlt sich einer zu Hause, der keine Heimat hat oder mehrere?

Alexander Estis, geboren 1986 in Moskau, beantwortet Fragen nach kurzem Nachdenken freundlich und beinahe druckreif. Er lebt und arbeitet seit Juni in Dresden als neuer Stadtschreiber. Das Stipendium wird von der Stadtverwaltung und der Kulturstiftung der Ostsächsischen Sparkasse finanziert. Damit verbunden sind eine mietfreie Wohnung für ein halbes Jahr und 1.500 Euro im Monat. Zuletzt hatten Charlotte Gneuß, Carl-Christian Elze und Katharina Bendixen dieses Amt inne. Es wird seit 1996 vergeben.

Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch begrüßte Alexander Estis bei seiner Antrittslesung als einen Autor, der »mit feiner Beobachtungsgabe und sprachlicher Präzision die gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene unserer Zeit spiegelt«. Die Jury hatte er mit Prosa-Miniaturen überzeugt, in denen er »kenntnisreich und mit hintergründigem Witz den Kulturbetrieb kommentiert«. An solchen Texten will er in Dresden weiterschreiben. »Dafür ist die berühmte Kunstmetropole natürlich ein hervorragendes Pflaster.« Daneben, sagt er, interessieren ihn Parallelen und Unterschiede zwischen hiesigen Erfahrungen und seiner sowjetischen und postsowjetischen Herkunft.

Estis erzählt von dem jüdischen Kindergarten, den er in Moskau besuchte und der offiziell »Kindergarten mit ethnischer Erziehungskomponente« hieß. Auch die jüdische Schule sei von Sicherheitsleuten bewacht worden. Er war zehn Jahre alt, als er mit seinen Eltern nach Hamburg übersiedelte. Nach und nach, sagt er, habe er sich vom religiösen Denken gelöst. Doch als kultureller Hintergrund, als Tradition und Fundus menschlicher Erfahrungen und Symbole sei ihm das Judentum wichtig. Nach dem Studium lehrte Estis an verschiedenen Universitäten, er gibt gelegentlich Seminare und Workshops. Seit 2016 lebt er im Schweizer Kanton Aargau, manchmal in Berlin oder mit etwas Glück in Stipendien-Orten. Nicht zufällig heißt eines seiner Bücher Fluchten.

Mit einem klassischen Heimatgefühl kann Alexander Estis nicht dienen. »Ich weiß auch nicht, ob ich das wollen würde«, sagt er. »Es gehört zu mir und meinem Leben, darauf zu verzichten. Denn mit einer komplexeren Biografie ist man nirgendwo ganz zu Hause. In der Schweiz bin ich ein Deutscher, in Deutschland ein Russe und in Russland ein Jude. Aber keines davon bin ich richtig, kein richtiger Deutscher, kein richtiger Russe, kein richtiger Jude und ein richtiger Schweizer schon gar nicht. Da findet eine Art Subtraktion der Identitäten statt. Man fragt sich, was am Ende von einem üblichen Zugehörigkeitsgefühl übrigbleibt.« Was er bei allem Hin und Her immer dabei hat, ist ein Metallbleistift. Den lässt er in der Hand kreiseln, auch wenn er gerade nicht schreibt.

Wenn er aber schreibt, entstehen scharfsinnige Texte wie etwa in seinem Handwörterbuch der russischen Seele. Gekonnt buchstabiert er sich durch das Alphabet. Jedes Wort von A bis Z wird auf wenigen Zeilen zugespitzt, gedreht und gewendet. »Alle Formen haben ihre Berechtigung, und viele Leser mögen das Kurze, Ausgefeilte, rundum Geschliffene.« In einer seiner Miniaturen bittet ein Lektor einen Schriftsteller, »deutlich stärker« zu kürzen. Da fallen zuerst die detailverliebten und schwatzhaften Wortwechsel weg, dann werden ganze Figuren und Handlungsstränge gestrichen, dann der Kern der Geschichte samt Vorarbeiten und Erinnerungen des Schriftstellers. Am Ende radiert er seine Existenz aus. So weit kommt es in der Wirklichkeit von Estis zum Glück nicht. Doch der große Roman, fürchtet er, wird wohl im Stadium des Entstehens bleiben – auch wenn Romane im Literaturbetrieb mehr Beachtung finden und mehr Preise gewinnen.

2023 wurde Alexander Estis mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet. Wie der Publizist der Weimarer Republik balanciert er oft zwischen Literatur und Journalismus. Er belebt das traditionsreiche Genre des Feuilletons neu. Auf die Frage nach möglichen Vorbildern nennt er neben Kurt Tucholsky den Österreicher Karl Kraus: »Beide haben nicht nur zeitkritisch interveniert, sondern witzig und sehr pointiert.« Der jüdische Witz sei auch in seiner Familie prägend gewesen. Was daran typisch ist? Das Janusköpfige, sagt Estis. »Das Jüdische kennt sowohl Lachen, Freude und Lebenswillen als auch tiefe Trauer, Tragik und das Bewusstsein des eigenen Schicksals. Auch die Fähigkeit, über sich selbst und die Verhältnisse zu lachen, ist ein Charakteristikum. Man nimmt sich nicht allzu ernst.«

Zwischen Komik und Tragik changieren die Miniaturen im Bändchen Bugs. Der Autor erörtert brisante Fragen: Darf ein Schriftsteller über Hauskatzen schreiben, wenn er gar keine hat? Kann ein Wiener Kaffeehausliterat auf Instagram populär werden? Sind Texte über Viren ansteckend? Die Geschichten mit doppeltem Boden entstehen aus der Beobachtung der Realität. Was Alexander Estis als Stadtschreiber in Dresden beobachtet, wird in seinen Kolumnen in der Sächsischen Zeitung zu lesen sein.

Text von Karin Großmann

Bis zum 1. September können sich deutschsprachige Autorinnen und Autoren um das Dresdner Stadtschreiber-Stipendium 2026 bewerben.