Autorenfoto Jayne-Ann Igel, Bild von Raja Lentzsch
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04.04.2022
Sächsischer Literaturrat

Welthaltig und keinesfalls provinziell

Die »Reihe Neue Lyrik« – Ein Gespräch mit den Herausgebern

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Seit 2011 erscheint die Reihe Neue Lyrik, die sächsischen Dichterinnen und Dichtern gewidmet ist und die Sie zusammen herausgeben. Wer hatte die Idee dazu und welche Partner sind bei der Realisierung beteiligt?

Jayne-Ann Igel: Die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen hat damals den Verleger Andreas Heidtmann vom Leipziger Poetenladen angesprochen und dann wurden Herausgeber und Herausgeberinnen gesucht. Da wurden wir angeschrieben, so einfach war das.

Jan Kuhlbrodt: Wir haben gern zugesagt, weil Herausgeben auch eine feine Sache ist. Das macht mir manchmal sogar mehr Spaß als selber schreiben. Man hat mehr Schreibarten zur Verfügung, die man zeigen kann. Und die Freude ist doppelt, wenn es gelingt. Man hat die Freude der Autorin oder des Autors, den man präsentiert, und dann noch die eigene Freude. Das ist schön.

Jayne-Ann Igel: Das geht mir ähnlich. Wenn man am Manuskript gesessen und vielleicht hier und da noch etwas korrigiert hat, dann hat man das gemeinsam auf dem Weg gebracht und hält es zum ersten Mal in der Hand und dann kann man sagen: Ach, das ist ja wirklich ein tolles Buch geworden! Da hat sich die ganze Mühe gelohnt, da hat man etwas in die Welt gebracht, oft auch eine Entdeckung gemacht, gerade bei den jüngeren Autorinnen und Autoren. Das Konzept hat mich gereizt und wie Jan Kuhlbrodt musste ich auch nicht lange überlegen, ob ich als Herausgeberin mitmachen möchte.

Das Konzept der Reihe basiert darauf, dass ausschließlich Dichter und Dichterinnen aus Sachsen vorgestellt werden?

Jayne-Ann Igel: Ja, aber nicht nur aus Sachsen, sondern mit Sachsenbezug. Es kommen zwar viele aus Sachsen, da sind wir gut aufgestellt, aber eben auch Leute, die später hierhergekommen sind oder die eine Weile hier gelebt haben, also für die Sachsen ideell, biografisch oder thematisch eine Rolle spielt.

Jan Kuhlbrodt: Außerdem gehört zum Konzept dazu, dass wir jedes Jahr ein dichterisches Debüt und ein Werk einer gestandenen Autorin oder eines gestandenen Autors vorstellen. Das ist für mich besonders schön, weil ich damit auch die Dichter-Helden meiner Jugend einsammeln konnte. So ein Buch mit Elke Erb zu machen, das war schon der Wahnsinn.

2011 war der erste Band der Dichterin Anne Dorn gewidmet, der neueste Band ist von Utz Rachowski. Wie findet die Auswahl der Dichterinnen und Dichter statt?

Jayne-Ann Igel: Das ist ganz unterschiedlich. Wir suchen selber und Autorinnen und Autoren suchen uns. Als die Reihe ins Laufen kam, gab es immer Dichterinnen und Dichter, die sich mit ihren Manuskripten bei uns gemeldet haben oder gesagt haben, wir wären gern dabei. Anderseits achten wir darauf, dass wir auch diejenigen berücksichtigen, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind, zum Beispiel Uwe Hübner, den wir mit seinem Gedichtband wieder einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen wollten. Er hatte seinen letzten Band in der 90er Jahren, hat aber immer weitergeschrieben. Das mixt sich dann schön mit bekannteren Namen, die in der Reihe vertreten sind, wie zum Beispiel Kerstin Hensel oder Róža Domašcyna.

Sie sind selber Dichter, macht das die Arbeit als Herausgeber eher leichter oder schwieriger?

Jan Kuhlbrodt: Ich glaube, das ist immer mentalitätsabhängig. Mir fällt es nicht schwer, mich mit den Texten anderer zu beschäftigen. Aber ich unterrichte ja auch sehr gern und fahre da keinen engen Stiefel. Ich glaube, da geht es Jayne-Ann Igel genauso wie mir, dass wir genauso viel Freude am Lesen wie am Schreiben haben und nicht nur die eigenen Texte im Blick zu haben.

Jayne-Ann Igel: Für mich hängt Autorschaft immer auch mit einer Reflexionsfähigkeit gegenüber dem eigenen Werk zusammen. Und wenn man das aufbringen kann, macht sich das auch bei der Herausgabe fremder Texte bezahlt. Denn die Herausgabe umfasst auch das Lektorat der jeweiligen Gedichtbände und das Verfassen eines Nachworts.

Wenn Sie sich für eine Autorin oder einen Autor entschieden haben, wie gestaltet sich danach die Zusammenarbeit?

Jayne-Ann Igel: Im besten Fall ist schon ein Manuskript vorhanden, jedenfalls bei den Debütanten, wo mal was rausfällt oder was dazukommt, aber schon ausreichend Material vorliegt. Bei den gestandenen Autorinnen und Autoren dagegen sollte es nicht unbedingt das nächste Manuskript sein, das in der Schublade liegt. Sondern das Buch in unserer Reihe sollte auch so etwas wie ein Markstein in ihrem Gesamtwerk sein.

Jan Kuhlbrodt: Manchmal ist es leichter, mit gestandenen Autorinnen und Autoren zu arbeiten, weil sie Erfahrung damit haben, mit Kritik umzugehen. Am besten war es mit Elke Erb, weil sie es regelrecht von mir erwartet hat, dass ich sie massiv kritisiere und in ihren Texten herumschreibe. Bei den jüngeren Dichterinnen und Dichtern fühlt man sich oft an sich selbst erinnert und daran, dass man auch das Streichen lernen muss. Das ist irgendwann die wichtigste Tätigkeit eines Autors, im eigenen Text zu streichen. Da stehen wir unseren Schützlingen zur Seite und zu manchen von ihnen habe ich immer noch Kontakt und wir arbeiten gemeinsam an Texten oder trinken einfach mal einen Kaffee zusammen. Denn mit der Arbeit am Buch baut man natürlich eine Beziehung auf, vor allem weil wir keine hauptberuflichen Lektoren sind, die jeden Tag ein Manuskript auf dem Tisch haben. Dadurch wird die Zusammenarbeit hin und wieder etwas privater und intensiver als bei Verlagslektoren.

Jayne-Ann Igel: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gerade die jungen Dichterinnen und Dichter auch dankbar sind, dass sie so intensiv von uns betreut werden. Und dass ich immer wieder dazu lerne, dafür bin ich wiederum dankbar.

Wenn Sie die Bände der letzten zehn Jahre nebeneinanderlegen, können Sie Gemeinsamkeiten entdecken, einen roten Faden, der möglicherweise ein sächsischer Faden ist, sei es thematisch oder sprachlich?

Jan Kuhlbrodt: Ich glaube nicht, dass es eine sächsische Mentalität gibt, die sich da niederschlägt. Was man vielleicht sagen könnte, es gibt so eine Art Einflussschwamm, wo Einflüsse aus ganz anderen Gegenden angezogen werden, auch über historische Grenzen hinweg. Man merkt, auch wenn wir auf den ersten Blick nur regional agieren, ist es nicht provinziell, was da passiert. Da wird immer auch Welt aufgenommen und das ist auch uns als Herausgebern wichtig. Das Wort Welthaltigkeit ist zwar etwas komisch, aber das passt in dem Fall gut. Und das formale Experiment ist natürlich da, aber auch das ist keine sächsische Eigenheit, sondern macht gute Literatur ganz generell aus.

Jayne-Ann Igel: Dennoch gibt es innerhalb der Erfahrungshorizonte der Dichterinnen und Dichter bestimmte Topoi, die immer wieder auftauchen. Seien es die Bergbaulandschaften der Lausitz, die sowohl bei Róža Domašcyna und Andra Schwarz als auch bei Anne Seidel auftauchen, sei es der Blick in den Osten. Solche Dinge spielen durchaus eine Rolle. Und da ist es besonders interessant, diese Themen in ganz verschiedener Weise und vielfach gebrochen zu sehen.

Jan Kuhlbrodt: Gerade die Autorinnen und Autoren aus der sorbischen Gegend sind ja mehrsprachig grundiert, das vergisst man oft, dass Sachsen mehrsprachige Regionen hat. Das beeinflusst natürlich auch das Schreiben. Die Begegnung mit Kito Lorenc zum Beispiel war für mich auch ein absoluter Höhepunkt. Ich habe ihn besucht und saß einem weiteren Helden meiner Jugend gegenüber. Und dann war das Buch in unserer Reihe leider auch das letzte Buch, das er gemacht hat.

Die Gestaltung der Lyrik-Reihe ist sehr markant. Wer hat sie übernommen und wie verhält sie sich zum Inhalt?

Jan Kuhlbrodt: Die Gestaltung hat die Leipziger Grafikerin Miriam Zedelius übernommen und das funktioniert so, dass sie vom Verleger Andreas Heidtmann eine Textauswahl bekommt und verschiedene Vorschläge für ein Cover macht. Das Geniale ist, dass die Reihe trotz der wirklich sehr individuellen Cover immer als Reihe erkennbar ist.

Wie fügt sich die Reihe in die deutschlandweite Literaturlandschaft ein, wie sind die Reaktionen oder Kooperationen mit Dichterinnen und Dichtern von anderswo?

Jayne-Ann Igel: Die Reihe wird überregional wahrgenommen, das merkt man an den Rezensionen der Bücher, aber auch den Preisen, die unsere Dichterinnen und Dichter bekommen. Thilo Krause zum Beispiel bekam 2013 den Eidgenössischen Literaturpreis (Schweiz) für seinen Band Und das ist alles genug, der 2012 in unserer Reihe erschienen ist.

Ein Buch herauszugeben ist das eine, aber wie bringt man es unter die Leute? Wie aktiv ist die sächsische Dichterszene, wenn es um Lesungen und Veranstaltungen geht?

Jan Kuhlbrodt: Es gibt immer eine Präsentation in der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden. Und einige Bände habe es auch in den Sächsischen Bücherkoffer des Literaturrats geschafft, wie zuletzt Hannes Fuhrmanns Debüt Wunderschöner Berg.

Der aktuelle Band ist bereits der 22ste! Diesmal sind es Gedichte von Utz Rachowski, was macht diesen Dichter aus?

Jan Kuhlbrodt: Also dazu muss ich zunächst eine Geschichte erzählen: Utz Rachowski saß in der DDR in der Abschiebehaft ungefähr 200 Meter von einer Schule entfernt, wo ich als Jugendlicher immer freitags zur Disko gegangen bin. Das war Ende der 70er Jahre in Karl-Marx-Stadt. Das muss man sich mal vorstellen! Was nun aber Utz Rachowski heute ausmacht, ist, dass er trotz dieser Erfahrungen nicht verbittert ist. In der persönlichen Begegnung ist er einer der sympathischsten Menschen der Welt. Formal macht ihn aus, dass er das, was um ihn herum passiert, durch einen Filter in seine Texte bringt und durchaus zeit- und gesellschaftskritisch formuliert. Aber anders als andere Dichter seiner Generation, von denen manche in der Schleife »Unterdrückung in der DDR« hängengeblieben sind, hat er dieses Kapitel überwunden. Möglicherweise liegt das daran, dass Utz Rachowski schon immer einen weiten Blick hatte, auch in der DDR. Er war oft in Polen, hat dort während des Kriegsrechts Begegnungen zwischen polnischen und deutschen Autorinnen und Autoren organisiert. Auch die Erfahrungen, die er in Amerika gemacht haben, fließen in seine Dichtung ein. Und trotzdem ist immer der geschichtliche Hintergrund seiner eigenen Biografie erkennbar. Außerdem hat er wunderbare Gedichte über seinen Hund geschrieben, die sich auch in dem neuen Band wiederfinden. Die sind anrührend, aber niemals kitschig, das muss man erstmal hinkriegen.

Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

Ein Interview aus dem Newsletter des Sächsischen Literaturrats

Alle Publikationen der »Reihe Neue Lyrik« auf der Website der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen

Herausgegeben im Leipziger Poetenladen Verlag