Paul-Henri Campbell (c) Volker Derlath
10.11.2021
Literaturnetz Dresden

Dem Leben abgerungene Gedichte

Paul-Henri Campbell übernimmt die Chamisso Poetikdozentur 2021

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Seit 2020 erlebt die Chamisso-Poetikdozentur, die von der Sächsischen Akademie der Künste zusammen mit dem Verein Bildung und Gesellschaft und den Städtischen Bibliotheken Dresden ausgerichtet wird, eine Neuauflage. Herausragende Dichter und Schriftsteller, die einen Sprachwechsel vollzogen haben, denken in der Vortragsreihe über poetologische Voraussetzungen ihres Schreibens nach. In diesem Jahr ist der 1982 in Boston geborene Dichter Paul-Henri Campbell eingeladen.

Campbell studierte Klassische Philologie und Katholische Theologie in Frankfurt am Main und der National University of Ireland. Er schreibt Lyrik und Prosa in englischer und deutscher Sprache. Als Mitglied der Redaktion der internationalen Lyrikzeitschrift Das Gedicht  macht er deutschsprachige Lyrik der Gegenwart einem internationalen Publikum in Übersetzung zugänglich. Zuletzt erschienen der Gedichtband nach den narkosen (2017) sowie der Interviewband Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst (2019).

Kurt Drawert schreibt über Campbell: »[Er] beherrscht beide Tonlagen. Vor allem aber das Langgedicht, das sich über Motivketten und einem seriellen Ordnungssystem aus sich selbst heraus entfaltet, ist seine Stärke. Man kann spekulieren, ob es die Herkunft – geboren 1982 in Boston – ist, die auch zu einer literarischen Prägung wurde. Denn Primärerfahrung und poetischer Text reagieren stets aufeinander oder sind sogar koinzident. Entscheidend aber ist das ästhetische Ding, das Gedicht, ob es oder ob es nicht gelungen ist. Und Campbell, der leider noch zu wenig bekannt ist, schreibt geradezu atemberaubende, in ihrem Rhythmus, ihrem Sound, ihrer Bildlichkeit unverwechselbar eigene, soll heißen: dem Leben „abgerungene“ Gedichte. […]

wie axthieb wie hindurch wie brustbein
wie ein kalter nasser schmerz wie krass
wie im erwachen wie ohne wie mit naht
der nacht (…)
und auskehrend wieder o atem
und er geht fort (…)
jener
komplize des skalpells der offen sah dich
dir ins herz.

Würde er die Verse laut lesen, könnten wir seinem hastigen Gestus folgen, seiner Geschwindigkeit, mit der er denkt, lebt und handelt. Es ist, als hätte einer niemals Zeit, auch wenn er Zeit hat. In diesem Zyklus nämlich geht es um Leben und Tod, denn Paul-Henri Campbell muss mit einer schweren Herzkrankheit leben, und er lebt so immer auch in einem Bewusstsein von der Endlichkeit. Und wie die Kerze, die an beiden Seiten brennt, beschleunigt sie auch seine Zeit, seine Dichtung, seine kluge, hellwache Art, die Welt sich verständlich zu denken.«
Erschienen in: OSTRAGEHEGE – Zeitschrift für Literatur und Kunst Nr. 83 (Dresden 2017)

Lesetipp: Im aktuellen Dresdner Kulturmagazin (11/21) ist ein launiges Interview mit Paul-Henri Campbell erschienen.

Vorlesungen

Die Vorlesungen der Chamisso Poetikdozentur finden in der Zentralbibliothek im Kulturpalast statt. Beginn ist jeweils 19.30 Uhr.

15. November: »Frustmensch trifft Lustmensch. Johann Faust und Sir John Falstaff sitzen in einer Bar«

22. November: »Frankenstein als Poet. Wege aus der Dystopie«

29. November: »Kranke Gedichte. Über hinkende Vergleiche, Stilbrüche und holpernde Verse«