Karin Großmann bei einer Werkstattlesung mit Peter Wawerzinek, Foto von Peter Fischer
Sechs bedeutende Bücher für Karin Großmann (Foto: privat)
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20.10.2020
Karin Großmann

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Karin Großmann

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Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …

Manche Bücher schleppt man ewig mit sich herum in der Hoffnung, dass die berühmte einsame Insel wenigstens ein großes, leeres Regal besitzt. Warum, um Himmels willen, dürfen es nur sechs sein und nicht sechzehn oder sechsundsechzig? Wer will den Verzicht gegenüber all den Nichtgenannten verantworten? Ich fand es schon zu Beginn meiner Lesesozialisation ungerecht, von einem Autor nur ein Buch zu lesen. Ich dachte mir Vollständigkeit schön. Dummerweise geriet ich im elterlichen Bücherschrank ausgerechnet an Honoré de Balzac. Der hatte zwar interessante »Stellen«, doch seine rasende Produktivität überforderte mich. Ich verwarf den Plan einer kompletten Lektüre. Trotzdem sind einige Schriftsteller fast lückenlos in der heimischen Sammlung vertreten. Das hat sich so ergeben. Aus guten Gründen.

Johann Karl August Musäus: Volksmärchen der Deutschen.

Das war das Buch für den Übergang. Anfangs wurde es noch vorgelesen, und mit dem Lesen bleibt das Gefühl von Geborgenheit für immer verbunden. Das Sofakuscheln war gerade bei diesen Märchen dringend erwünscht. Da verkauft ein Vater seine drei Töchter an einen Bären, einen Adler und einen Walfisch. Nur für kurze Zeit verwandeln sich die Tiere in Menschen. Zum Fürchten sind auch die Erlebnisse von Rübezahl, von Ulrich mit dem Bühel oder der schönen Libussa aus dem Böhmischen Wald. Das schrecklich Schöne in der Literatur war eine neue Erfahrung. Außerdem konnte man staunen über eine Sprache, in der es heißt: »Die Natur stund in horchsamer Stille bei Aufgang der Sonne.« In langen, geschwungenen Sätzen feiert Musäus die Natur, baut aber auch moralisierende Sentenzen ein und satirische Seitenhiebe. Gerade weil es ein besonderer Tonfall ist mit ungewöhnlichen Wörtern, blieb diese Lektüre stärker in Erinnerung als etwa die Märchen von Hauff, Andersen oder den Grimms. Außerdem lernte ich an dieser Ausgabe beim Selberlesen die Frakturschrift. Mit dem Abstand der Jahre frage ich mich, ob das Ganze samt den gemütvollen Illustrationen von Paul Hey nicht unter Kitschverdacht steht. Geschadet hat es jedenfalls nicht.

Heinz Knobloch: Zur Feier des Alltags.

Die endlosen Sommerferien der Kindheit verbrachte ich oft bei den väterlichen Großeltern. Sie waren glückliche Inhaber eines Abonnements der Wochenpost. Dort mischten sich Politik und Kultur mit Privatanzeigen, Rätseln, Gerichtsreportagen. Zuerst las ich die Texte unter der Rubrik Mit beiden Augen. Erst viel später lernte ich den Verfasser kennen, Heinz Knobloch, in Dresden 1926 geboren und 2003 auf dem Johannisfriedhof in Dresden-Tolkewitz beerdigt. Er war der Meister des Feuilletons in der DDR. Der Begriff Feuilleton meinte nicht die Kulturseite in der Zeitung, sondern ein literarisches Genre: Kleinkunst. Klein gilt nur für die Textlänge. Knobloch nahm den Stoff dafür aus dem Alltag: Flaschenannahme, Feuerwehrmuseum, Fischverkauf, Friedhof, Friseursalon … Als wüsste nicht jeder, wie es dort zugeht. Doch bei diesem Autor erscheint das längst Bekannte in neuem Licht. Weil er genauer hinschaute und hinhörte, weil er sich Seins dazu dachte, weil er einen hintergründigen Humor besaß und ein Gespür für Pointen. Mit hartnäckigem Forscherdrang stieg er tief in die Geschichte hinab, um die Gegenwart zu erklären. Selbst dann hält sich ein leichter, schwebender Ton. Das alles ist das Gegenteil von Besserwisserei und Belehrung. Die Feuilletonsammlung Zur Feier des Alltags wurde für mich zum Lehrbuch auch für den Journalismus. Was bei Knobloch außerdem zu lernen war: sich selbst nicht so wichtig zu nehmen.

Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens.

Das Ungarntagebuch erschien 1971 in der DDR und beeindruckte mich auf doppelte Weise. Was für lebhafte Bilder malte Franz Fühmann von Kettenbrücke und Gellertbad, von der Markthalle in Budapest oder von Aprikosengärten in der Puszta. Das alles kannte ich nicht, aber das fremde Leben erschien mit einem Mal greifbarer. Ich kannte auch die meisten Dichter nicht, mit denen Fühmann durch Cafés und Antiquariate zog. Zum anderen aber sah ich schockiert, wie sich ein Schriftsteller bei lebendigem Leib langsam die Haut abzog. Fühmann hatte zwar als Wehrmachtssoldat Bürodienst getan, aber er hätte, schrieb er, vor der Gaskammer von Auschwitz genauso funktioniert wie andere. Er ging in diesem Buch mit sich selbst ins Gericht, mit seiner Schuld, seinem Gewissen und seiner Wandlung. Dass er sich gewandelt hatte vom überzeugten Nazi zum überzeugten Sozialisten, schien bis dahin gewiss zu sein. Nun sah er sich wieder veranlasst, eine Ideologie infrage zu stellen. Gewissheiten galten nicht mehr. Das Ungarntagebuch ist das Dokument einer Krise. Eine äußerst schmerzhafte Lektüre. »Verändert sich etwas am Wesen eines Menschen, wenn er eine Richtung seines Lebens ändert?«, fragte Fühmann. Oder: »Kann einer die Richtung seines Lebens verfolgen und sich dennoch wandeln?« Die Fragen gingen mich an.

Volker Braun: Training des aufrechten Gangs.

Jedes Buch von Braun ist eine unbedingte Aufforderung: zu mehr Mut, mehr Vernunft, mehr Zivilcourage. Im Gedichtband von 1979 stand die Aufforderung schon im Titel. Der Text selbst beschreibt eine Höhle, in der Menschen geduldig hocken, festgehalten von der eigenen Trägheit, vertröstet auf ein großes Licht, das es nicht gibt, umgeben von »Kunstersatz und normativem Gespeichel«. Einige Bewohner bemerken, dass die Höhle keinen Ausgang besitzt, aber auch keine Wände, und sie rennen sich lieber den Kopf ein an den »herumragenden rostigen Verhältnissen«, als dort hocken zu bleiben. Damit, schreibt Volker Braun, »begann ein neues, härteres Training, des schmerzhaften und wunderbaren aufrechten Gangs«. In seiner Radikalität ging Braun stets weiter als andere Dichter, und das tut er bis heute. Ein Anstifter des dialektischen Denkens. Gespräche mit ihm führen ins Offene, man kann ihm zusehen beim Entwickeln eines Gedankens. »Kommt uns nicht mit Fertigem!«, hieß es schon in einem seiner frühen Gedichte. Beim Weg aus der Höhle war und ist Volker Braun nicht nur für mich ein unentbehrlicher Begleiter.

Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.

Sicher könnte man ebenso die Kassandra-Erzählung von Christa Wolf nennen, ihr Nachdenken über Karoline von Günderode oder den Roman Kindheitsmuster. An der Pinnwand über dem Küchentisch hing mancher Satz von ihr, weil solche Sätze gebraucht wurden. »Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an.« Oder: »Lasst Euch nicht von den Eigenen täuschen.« Für mich war Nachdenken über Christa T. in einer inzwischen vergilbten zweiten Auflage von 1972 die Einstiegsdroge zum Werk dieser Schriftstellerin. Hier erlebte ich zum ersten Mal, was ihr Schreiben ausmachte: eine rigorose Selbstbefragung. Das Ineinander von Politik und Privatheit. Das unbedingte Beharren auf Wahrheit. Und eine freundliche Zuwendung zu den Bedrängten, Zweifelnden, Bitteren. Der Schlusssatz »Wann, wenn nicht jetzt« aus Christa T. zielte ins Allgemeinere. Schon in diesem Buch gab Christa Wolf die Erfahrung mit, dass man schreibend über die Dinge kommen kann. Jahrzehnte später las ich in Stadt der Engel, dass auch Schreiben nicht hilft, wenn der Klumpen Verzweiflung zu schwer wird. Da war ich eigentlich aus dem Alter raus, in dem man beim Lesen heult.

Arno Schmidt: Aus dem Leben eines Fauns.

Der Band mit Kurzromanen erschien 1986 im Leipziger Reclam Verlag und machte mich mit grenzbedingter Verspätung zur lebenslänglichen Schmidt-Leserin. Was man mit der Sprache anstellen kann, hatte mich schon in der Schulzeit fasziniert. Bei Schmidt sah ich: Mit der Sprache lässt sich alles machen, irrwitzig, tollkühn, doppelsinnig, assoziativ und ohne Rücksicht auf die gängigen Regeln von Orthografie und Zeichensetzung. Ich amüsierte mich über verrückte Wortschöpfungen und manche Anspielungen, die ich bis heute nicht alle entschlüsseln kann. Als ich mehr über den Verfasser wissen wollte, stieß ich auf den Band Wu Hi? aus dem Züricher Haffmans Verlag. Dass der Verlag zu einer meiner ersten erfreulichen Nachwende-Entdeckungen werden würde, ahnte ich noch nicht. Die Dresdner Stadtbibliothek besorgte ein Exemplar per Fernleihe, nur vor Ort zu lesen. In dem Buch erinnert sich Schmidts Jugendfreund Heinz Jerofsky an die gemeinsame Schulzeit in Görlitz. Ich machte ihn ausfindig und besuchte ihn. Arno Schmidts Zettelkästen in Bargfeld in der Lüneburger Heide gehörten zu den ersten Reisezielen nach dem Mauerfall.

Letzten Monat lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von Juliane Moschell.

Karin Großmann ist weit in Sachsen herumgekommen: Sie wurde 1954 in Karl-Marx-Stadt geboren, absolvierte ein Volontariat in Schwarzenberg, studierte Journalistik in Leipzig und begann 1978 in Dresden als Redakteurin der Sächsischen Zeitung. Dort war sie als Leiterin des Feuilletons, als Chefreporterin und als Literaturverantwortliche tätig. Seit April 2020 ist sie Autorin der SZ. 1998 wurde sie mit dem Theodor Wolff Preis ausgezeichnet, den der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger vergibt. Sie ist Mitglied in der Facharbeitsgruppe Literatur des Dresdner Kulturamts und arbeitet in den Jurys für den Dresdner Stadtschreiber, den Sächsischen Verlagspreis und den Sächsischen Literaturpreis.