Preisfrage: Was verbindet Jenny Erpenbeck mit Charlotte Gneuß und Janna Steenfatt? Nicht viel. Außer dass sie Schriftstellerinnen sind und vor kurzem einen Roman veröffentlicht haben, der – wenigstens zum Teil – in der DDR angesiedelt ist, in der Deutschen Demokratischen Republik.
Der Staat ist das, was im Briefmarkensammlerjargon ein abgeschlossenes Sammelgebiet genannt wird; seit fast 35 Jahren existiert er nicht mehr. Sein Untergang war ein Weltereignis. Wer damals alt genug war, das Walten der Geschichte wahrzunehmen, wird mit dem Begriff »The Fall of the Wall« etwas anzufangen wissen. Die Sensibleren bekommen Gänsehaut. Dieser Mauerfall war einer der Kulminationspunkte des Zerfalls des kommunistischen Staatenbundes unter Führung der Sowjetunion, das Ende einer leicht verständlichen, bipolaren Welt. Diese Vergangenheit beginnt allmählich zu verblassen.
Dennoch sind die Themen und Sujets aus der Geschichte der DDR offenbar für ein breites Publikum aus West- und Ost-Deutschland, im Falle Jenny Erpenbecks sogar für ein internationales Publikum ein Faszinosum. Schwerlich vorstellbar, dass ein Roman über die bleiernen Kohl-Jahre in der BRD vor der Wiedervereinigung eine ähnliche Wirkung entfalten könnte …
Ein bröckelndes Ideal
Im Sommer 2024 erhielt Erpenbeck – gemeinsam mit ihrem Übersetzer Michael Hofmann – den International Booker Prize, einen der bedeutendsten englischen Literaturpreise für ihren Roman Kairos. Das Buch war im Frühjahr dieses Jahres erst bei Penguin erschienen. Jenny Erpenbeck, Schriftstellerin und Theaterregisseurin, 1967 in Ost-Berlin in eine literatur- und kunstaffine Familie hinein geboren, ist die einzige der drei genannten Autorinnen, die in diesem Staat tatsächlich gelebt hat. Bereits mit Heimsuchung (2008), Aller Tage Abend (2012), und Gehen, ging, gegangen (2015) erzielte sie Erfolge. Letzterer stand bereits 2018 auf der Longlist des Booker Preises. Jenny Erpenbecks Romane wurden in über 30 Sprachen übersetzt. Immer wieder greift sie zeitaktuelle politische Themen auf, mit Gehen, ging, gegangen etwa den Beginn der Flüchtlingskrise 2015.
Mit Kairos kehrt sie in die Endphase der DDR zurück. Der Roman erzählt die Liebesgeschichte der 19-jährigen Katharina mit dem über 50-jährigen Schriftsteller Hans. Die Affäre entsteht aus einer Zufallsbegegnung Mitte der 1980er Jahre in Ost-Berlin und erstreckt sich mit dramatischen Trennungen und Wiederaufnahmen der Beziehung bis in die Zeit des Mauerfalls. Es ist eine innige aber ungleiche Beziehung mit einem klaren Machtgefälle: Der Ältere darf ins kapitalistische Ausland reisen und eröffnet der jüngeren Geliebten die große Welt der Kunst und ihres Genusses. Wir erleben Hans als weltgewandt und über den Staat, der ihn weit weniger begrenzt als die meisten seiner Mitbürger, erhaben. Er lebt in einer Sphäre, die ohnehin international ist. Er schreibt Texte fürs Staatsradio, hat sogar eine eigene wöchentliche Sendung. Die Republik protegiert ihn, lässt ihn an Privilegien teilhaben. Zu welchem Preis, wird in seltenen Momenten angedeutet. Erst allmählich durchschauen wir Leser*innen seine peinlich-kleinlichen Neigungen, seine Begrenztheit im eigenen Sein, auch seine Triebhaftigkeit. Wir erleben seine Freizügigkeit, aber auch die verzehrende Eifersucht, die Neigung zur Herrschsucht, seine nackte Brutalität. Das Ideal, das er ursprünglich in Katharinas Augen verkörperte, bekommt Brüche. Zudem scheint ihm die jüngere Partnerin in Klarheit und Wahrheit der Lebensführung überlegen. In der allmählichen Demontage ihres Exponenten spiegelt sich der zugrunde gehende Staat.
Wir erleben das Ende der DDR aus der Perspektive einer von einem Vorbild dieses Staates faszinierten jungen Frau. Hans steht nicht für diesen Staat, doch nimmt er gern dessen Privilegien, genießt den Einkauf im Intershop, den komfortablen Sonderstatus des fest angestellten Schriftstellers. Nach einem unangenehmen Wendepunkt der Handlung setzt er Katharina übel zu. Unsere Sympathien für Hans sind längst aufgebraucht, als zuerst die Beziehung, und dann die Zeit selbst ins Trudeln gerät. Unsere Empathie begleitet noch seinen raschen Niedergang mit dem Ende der Mauer: Hans verliert seinen festen Sendeplatz im Funk, seine Anstellung beim Verlag, die Privilegien. In den Westen reisen kann nun jeder, und ein Auto der Marke Schiguli ist nicht mehr das Maß der Dinge. Die Beziehung geht mit dem Staat zu Ende, Hans verliert alles. Eine entgrenzende, tabuisierte Liebe – natürlich ist Hans verheiratet – greift in einen Raum, den der Staat niemals ganz unter seine Kontrolle bringen konnte. Man versteht – und das ist vielleicht das Faszinosum für Menschen, die die Diktatur nicht kennen – dass es trotz räumlicher Begrenzung Schritte in die Unendlichkeit geben kann. So findet man Freiheit in der Gefangenschaft. Die Welt in uns kann um ein Vielfaches größer sein als die Welt um uns herum. Sie kann ein sicherer Ort sein. Die innere Emigration ließ und lässt manch freiheitsliebendes Individuum in einer Diktatur überleben. Jenny Erpenbeck kennt dieses Milieu der untergegangenen Gesellschaft offenbar genau und lässt es detailreich wieder aufleben: Das Milieu der Nationalpreisträger und Kulturfunktionäre bis hinauf zur Ministerebene. Sie schreibt in diesem Roman über etwas, das sie sehr gut kannte, dessen Teil sie einst war. Das macht diesen Roman frappierend authentisch.
Eine Welt abseits
In Charlotte Gneuß‘ viel besprochenen Debütroman Gittersee (2023, Verlag S. Fischer) wird hingegen nicht das städtische Umfeld Berlins, sondern ein – außer im Romantitel nicht näher lokalisiertes – Leben außerhalb der Großstadt beschrieben. Wir befinden uns in der Provinz, das nahe Dresden ist kaum spürbar. Charlotte Gneuß, geboren 1992 in Ludwigsburg bei Stuttgart, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden, und nun Szenisches Schreiben in Berlin. Sie, die einen Großteil ihres Erwachsenenlebens in Großstädten verbrachte, beschreibt sehr anschaulich und sinnlich erfahrbar eine Welt abseits der Metropolen. Sie kennt sie, das erfährt man in der Danksagung, aus Erzählungen der Eltern- und Großelterngeneration. Aus heutiger Sicht ein recht putziges Idyll, wo Großmütter Kuchen backen, wo Obst eingekocht wird und Kinder zu Fuß in die Schule gehen.
Auch diese scheinbar heile Welt erfährt einen Bruch: Das Idyll am Stadtrand wird bedroht von einem Mitarbeiter der Staatssicherheit mit Namen Wickwalz. Er kommt der weiblichen Hauptfigur des Romans, der 16-jährigen Karin, gefährlich nahe. Ihr gleichaltriger Freund »macht rüber«, und schon gerät sie in näheren Kontakt mit der Staatsmacht. Griffe ans Knie werden bei den Treffen üblich, schließlich ist sie schon »ein halber Staatsfeind«. Und Karin ist in ihrer jungen Persönlichkeit noch nicht so gefestigt, dass sie sich vom Interesse für ihr Knie nicht umgarnt fühlte …
Die Welt, die Charlotte Gneuß in klaren, kraftvollen Schilderungen auferstehen lässt, ist eine längst vergangene; eher die ihrer Großmutter als ihre eigene, doch ist sie tröstlich intakt. Die Generationen halten zusammen, ältere Geschwister passen auf jüngere auf, Omas auf Enkelinnen, es hat nicht den Anschein, als könne der Staat den Zusammenhalt in Frage stellen. Karin scheint auf ihre Weise resilient gegenüber den Nachstellungen der Staatsmacht zu sein; die Fronten sind klar gezogen, die Verlockungen der Staatsnähe, die in Erpenbecks Roman so nachvollziehbar werden, bleiben diffus. Karins Empfindung gegenüber der Autorität ist vor allem Machtlosigkeit. Dabei bleibt Wickwalz trotz des furchteinflößenden Stasi-Etiketts die eher harmlose Variante der Macht. Es gibt Gewalt in diesem Roman, doch geht sie eher von Männern aus als vom real existierenden Sozialismus. Von Männern ausgeübte sexuelle Gewalt – und das mag eine starke Parallele zur westdeutschen Gesellschaft sein – war in jener Zeit noch an der Tagesordnung. Stillschweigend erduldet, verschwiegen bis zur Selbstverleugnung, bis zu dem Tag, da die Metoo-Debatte einen neuen Umgang mit diesen sogenannten Kavaliersdelikten eröffnete.
Charlotte Gneuß‘ Roman wurde viel gelobt. Er erhielt u. a. den aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt. Natürlich gelang es den Gralshütern der faktenbasierten Fiktion, Fehler aufzuspüren; dennoch muss man von einem feinen, beeindruckenden Stück Literatur sprechen. Künstlerische Brillanz ist stets in der Lage, handwerkliche Fehler zu überstrahlen. Man muss nicht Goethe sein, um über die von keinem geringeren als Napoleon Bonaparte unter vier Augen geäußerte handwerkliche Kritik an seinem Werther zurückweisen zu können. Und da wir nun schon auf einem Umweg beim Werther gelandet sind, juckt es den Autor dieses Textes in den Fingern, weiter auszuschreiten und einen – zugegeben wagemutigen – Bogen über Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. zu schlagen. Der würde sich gut einfügen in diesen Reigen der politischen Beziehungskisten; und auch wieder nicht, denn alle Bücher, von denen hier die Rede sein soll, sind nach dem Ende des Staates entstanden, der sie inspirierte. Also verkneifen wir uns schweren Herzens den Exkurs.
Ein Schauplatz aus der Vergangenheit
Der letzte Roman im Reigen ist ebenfalls diese, in Richtung Frankfurter Messe allmählich zur Neige gehende Saison erschienen. Es handelt sich um Janna Steenfatts Mit den Jahren (Nagel und Kimche, 2024). Die Autorin stammt aus Hamburg, wurde 1982 dort geboren und studierte – wie Charlotte Gneuß – am Leipziger Literaturinstitut. In Leipzig lebt sie noch heute, dort ist ihr Roman auch angesiedelt. Auch hier scheint die Milieuschilderung überzeugend und authentisch: Eine nachwendige Leipziger Bohème, die männliche Hauptfigur ist ein erfolgreicher Maler, eine der beiden weiblichen Hauptfiguren Schriftstellerin wie die Autorin. Die Nachwuchsschriftstellerin Jette, scheint ihr Alter Ego zu sein. Die biografischen Bezüge sind nicht zu übersehen. Auch Jette stammt aus Hamburg, auch Jette ist Schriftstellerin und neigt aus der Natur ihres Berufes heraus dazu, sich von der durchaus dramatischen Handlung manchmal emotional zu distanzieren; ganz so, als betrachte sie die Irrungen und Wirrungen der Handlung als eine Versuchsanordnung, deren Teil sie rein zufällig ist.
Ihr gelingt es, sich als ein Drittes in die durchaus bürgerliche Ehe des Leipziger Paares zu mengen. Lukas und seine Frau Eva sind trotz zweier Kinder und eines substanziell erfolgreichen Lebens dennoch irgendwie unzufrieden. Im Laufe der Handlung stellt sich heraus: Der Verdruss beinhaltet einen sexuellen Aspekt. Beide Partner spüren eine Leerstelle in ihrem Sexualleben. Der Maler Lukas, Jette in allen Aspekten eines egoistisch ausgelebten Künstlertums ohnehin näher als seiner Ehefrau, verguckt sich als erster und wird Eva untreu – ausgerechnet im Ehebett. Durch den unerwarteten Zugang ins Allerintimste erwacht Jettes Interesse an der Familie ihrer Affäre. Es gibt weitere Stelldicheins im Atelier, sie sieht die Bilder der ehelichen Kinder und fühlt Nähe. Als das jüngste Kind, der 5-jährige Leo im Park abhandenkommt, ist es rein zufällig Jette, die ihn wieder findet, sich liebevoll um ihn kümmert und ihn wohlbehalten wieder bei der Mutter – ihrer insgeheimen Rivalin also – abliefert. Auf die ist sie ohnehin neugierig. Lukas gibt sich unterdessen voller Schuldgefühle dem Alkohol hin. Eva und Jette kommen sich überraschend nah und näher, freilich, ohne dass Eva genau weiß, wer ihr da gegenüber sitzt …
Janna Steenfatts Erzählung wird im Schritttempo vorangetrieben. In aller Seelenruhe wechselt sie die Perspektiven der Protagonisten durch. So erhält jede Figur die Gelegenheit, sich plausibel und psychologisch transparent zu machen. Es ist ein modernes, analytisches, multiperspektivisches Erzählen. Fast möchte man routiniert schreiben, nach zwanzig Jahren Schreiberfahrung der Autorin dürfte man sicher von Routine sprechen. Aber mir gefällt der negative Klang nicht. Schon gar nicht passt er zu einer künstlerischen Betätigung, so erfahren die ausübenden Künstler auch sein mögen. Kunst sollte immer atemberaubend und niemals routiniert sein, ein Tanz auf der Rasierklinge. Und das ist dieser Roman.
Die Langsamkeit kostet keine Spannung, im Gegenteil. In den entscheidenden Momenten wird die Handlung auf die Spitze getrieben, ohne auf Knalleffekte zu setzen. Das überraschende Ende ist gut vorbereitet, und als Leser geht man auch die oftmals sehr passenden Zufälle gern mit.
Janna Steenfatts Geschichte spielt im Jetzt. Die DDR-Vergangenheit des Schauplatzes und der Biografien ragt allerdings deutlich hinein in die Geschichte. Beim Maler und Arztsohn Lukas handelt es um einen aus Westdeutschland zugewanderten Neu-Leipziger, bei der weiblichen Protagonistin Eva hingegen um ein hiesiges Gewächs mit gediegen bildungsbürgerlichem Hintergrund. Es geht also um eine, wie man früher im Westen gesagt hätte, deutsch-deutsche Beziehung. Die Unterschiede der beiden, die sich in der Beziehung mitunter konflikthaft entfalten, sind hart am Wind der gängigen Stereotypen formuliert: Verwöhnter Wessi mit Eigentumswohnung und ausstehender Erbschaft im Hintergrund (Hamburg! Tierarzt!). Eva aus Leipzig (Lehrerin!) hat hingegen, im Unterschied zu Lukas, ihre Emotionen weitgehend unter Kontrolle. Sie ist die Vernünftige, auch ökonomisch kalkulierende, wohingegen überhaupt der Mann aus dem Westen eher schlecht abschneidet, eher zu weich und – im Vergleich zur Künstlerkollegin Jette allemal – subkompetent. Er wird als den Geschehnissen ausgeliefert geschildert, flieht in den Alkohol ebenso wie in die Affären, während die Frauen die Handlung und deren Fortgang (meistens wenigstens) im Griff haben. Frappierende Ähnlichkeit mit den Werken der oben genannten Autorinnen: Eine von Männern ausgeübte häusliche Gewalt setzt sich bei Lukas in einer sexuell eingesetzten und an der Stelle eher lächerlich wirkenden Machtpose fort. Es ist der Nachhall der 80er Jahre, im Westen noch genauso Tabak und Testosteron geschwängert wie im Osten.
Jette hingegen setzt ihr Sexappeal bewusst ein – natürlich mit Erfolg. Lukas scheint seinen Trieben ausgeliefert, Jette begibt sich bewusst in die Affäre. Und Eva ist selbstverständlich moralisch unbescholten – zunächst.
Provokation und Polarisierung
Alle drei Romane glänzen damit, dass die Autorinnen Dinge behandeln und schildern, die sie gut kennen. Sie übermitteln uns authentische Bilder und Eindrücke.
Die Tatsache, dass dieser fatale Unterschied zwischen West und Ost noch existiert – wahrnehmbar existiert – zeigt, wie virulent das Thema ist. Die DDR ist zwar eine abgeschlossene Vergangenheit, aber beileibe nicht tot, nicht einmal vergangen, wie Christa Wolf (in Anlehnung an William Faulkner) sagen würde. Der untergegangene Staat wirkt weiter in uns, in Biografien, in Haltungen hinein (ebenso natürlich wie die BRD), ist aber von beiden deutschen Staaten aus heutiger Sicht der provokantere, exotischere, widersprüchlichere; freigegeben zur Verklärung ebenso wie zur Verteufelung. Zur Polarisierung taugt er in der mental immer noch geteilten Nation allemal. Daher ist er der näherliegende literarische Gegenstand. In seinem Untergang liegt ein Vorwurf: War es womöglich der falsche Staat, der unterging? Hätte man nicht vielmehr die alte BRD zum Teufel jagen sollen?
Die Aktualität des Konflikts liegt auch darin, dass man noch immer erhebliches Kapital aus dieser Zweistaatengeschichte schlagen kann. Ökonomisches Kapital offenbar, wenn man unser aller Historie medial ausschlachten möchte, aber auch politisches. In den Medien funktionieren Schlagzeilen und Erzeugnisse, die die Mauer in den Köpfen wieder errichten, immer noch zuverlässig, und zwar auf beiden Seiten. Das ist das Praktische daran. Das Erregungspotenzial ist erheblich, man kann auf bereits bestehender, geprägter Polarisierung aufbauen. Die Reflexe funktionieren: Ihr im Westen, Wir im Osten. Wir sind das bessere Volk! Erst recht in Wahlkampfzeiten: Mehrere Parteien bauen ihre Werbung – besser sollte man derzeit von Propaganda sprechen, Werbung klingt in Wahlkampfzeiten viel zu rechtschaffen – auf diesem in die Jahre gekommenen Konflikt auf. Das Interesse an Versöhnung und wahrer Einheit scheint gering. Lieber regt man sich auf und findet alles Schlechte im jeweils anderen. Was aber kann man gegen Aufregung haben? Die ist allemal besser als Langeweile.
Aber es geht nicht nur um Unterhaltung, Umsatz und Wählerstimmen. Das Thema ist groß genug, es geht um mehr. Tatsächlich scheint die junge Gegenwartsliteratur eine der wesentlichen Instanzen zu sein, wo deutsch-deutsche Vergangenheit aufgegriffen und thematisiert wird. Mit erstaunlich tiefgründigen Erkenntnissen. Um eine Institution wie das Ministerium für Staatssicherheit zu begreifen, um die Verwerfungen zu verstehen, die zwei sehr gegensätzliche Diktaturen (mit wahrhaft beschämenden Gemeinsamkeiten) auf einem Teil deutschen Bodens angerichtet haben, bedarf es der Auseinandersetzung. Es gibt Forschungsinstitutionen, DDR-Museen, Unterlagenbehörden, dies alles erzielt nicht annähernd die öffentliche Wirkung, die in feiner Regelmäßigkeit die Literatur erreicht. Bücher wie die der besprochenen drei Autorinnen erlangen hohe öffentliche Wahrnehmung. Im Falle Jenny Erpenbecks lenken sie internationale Aufmerksamkeit auf nationales Geschehen. Darauf darf die Literatur stolz sein. Ganz abseits der schwer erträglichen Aktualität, die die Funktionsweise einer Diktatur und deren Analyse heute entfaltet. Daher, ganz unverbrämt: Lesen Sie diese Bücher! Lesen Sie darüber hinaus Plenzdorf, lesen Sie Havel, lesen Sie Kohout, lesen Sie Kundera; lesen Sie Strittmatter und Wolf und Morgner und Seghers und Solschenizyn und Herta Müller. Lesen Sie diese Nachrichten aus einer untergegangenen Welt. Lesen Sie sie gerade dann, wenn Sie vorausahnen, dass Sie in der freien und geheimen Wahlkabine von einer Sehnsucht nach Diktatur befallen werden. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen aufhalten kann die Literatur nicht. Konnte sie noch nie. Aber offenlegen, das kann sie. Denn in jeder guten Lüge funkelt das Juwel einer tieferen Wahrheit.
Ralf Günther studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und spezialisierte sich auf Medienpädagogik. In seinen Romanen widmet er sich historischen und zeitgeschichtlichen Themen, daneben schrieb er eine Kolumne für das Magazin der Sächsischen Zeitung (Zeitgeist) und kulturgeschichtliche Beiträge für das Magazin Cicero. Nach einer Zwischenstation in Hamburg lebt er heute wieder in der Nähe seiner Wahlheimat Dresden.
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