Helge Pfannenschmidt, Verleger bei Edition Azur, Bild von Detlef Ulbricht
Autorenfoto Volker Sielaff, Bild von Amac Garbe
Autorenfoto Sandra Hüller, Bild von Christian Hüller
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03.11.2020
Helge Pfannenschmidt

Gedichte müssen raus in die Welt

Warum die edition AZUR mit Lyrik-Singles experimentiert

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Literaturverlage, egal wie groß und egal mit welchem Profil, hatten ordentlich zu kämpfen in den letzten Jahren. Die allgemein sinkende Zahl an Buchkäufer*innen und -leser*innen, die Pleite des Zwischenbuchhändlers KNV, Portoerhöhungen sowie der schwindende Platz für Buchbesprechungen in den Feuilletons – um all das zu kompensieren, sind Ideen gefragt, die vom business as usual abweichen.

Schwellenangst bei Lyrik

Die unabhängigen Verlage haben dabei einen entscheidenden Vorteil gegenüber Konzernverlagen: Sie sind manövrierfähig und geübt darin, den Mangel an finanziellen Ressourcen mit Engagement und Ideenreichtum auszugleichen. Speziell für Lyrikverlage wie die edition AZUR sind innovative Strategien zur Gewinnung neuer Leser essenziell. Denn zusätzlich zu den oben genannten Herausforderungen haben sie eine weitere Hypothek zu schultern: Das Fremdeln bzw. die Schwellenangst vieler Leser*innen und Leser, wenn es um Lyrik geht. Das beginnt schon in der Schule, wo die Lyrik der vergangenen 30 oder 40 Jahre oft gänzlich ausgespart bleibt – mit dem Ergebnis, dass viele Schüler*innen den Eindruck mitnehmen, Gedichte und Gegenwart hätten nichts miteinander zu tun. Das setzt sich fort in der fehlenden Präsenz von Lyrik in der Mehrzahl der großen Buchhandlungen sowie in Bibliotheken und im öffentlichen Raum.

Die Verlage, so sie überhaupt noch Lyrik verlegen, begegnen dem in der Regel mit zwei Strategien: Einige verzichten konsequent auf jegliche Infrastruktur (z. B. Pressearbeit und Auslieferung) und entdecken das Do-it-Yourself-Prinzip für sich neu: Mit kleinen, zum Teil im Manufakturprinzip gefertigten Auflagen, die in Eigenregie vertrieben werden. Das hat einen gewissen Underground-Charme, birgt jedoch gleichzeitig die Gefahr, dass Lyriker*innen sich im »Preaching to the Converted« verzetteln.

Die edition AZUR hat sich für die zweite Strategie entschieden: Der Wechsel unter das Dach von Voland & Quist steht für die Überzeugung, dass Gedichte es trotz schwieriger Rahmenbedingungen raus in die große weite Welt schaffen und ein größeres Publikum finden können – vorausgesetzt, man erschließt sich neben den etablierten Wegen, wie über Buchhandel und Presse, auch neue Kanäle.

Sprechende Texte

Ein Testballon in genau diesem Sinne ist die »Singleauskopplung« aus dem aktuellen Band Barfuß vor Penelope von Volker Sielaff, die wir als Download auf der Verlagswebsite, bei iTunes und auf anderen Plattformen anbieten. Schon nach den ersten Lesungen wussten wir: Mystische Aubergine ist ein Sprechtext, der auch bestens funktioniert, wenn man ihn nur hört. Zum einen, weil er mit gut 18 Minuten lang genug ist, um eine Sogwirkung zu entwickeln. Zum anderen, weil sein weltumarmender Gestus und sein Witz gut in die Zeit passen und das Potenzial haben, Menschen zu erreichen, die sich sonst nicht für Lyrik interessieren.

Dass wir dann noch Sandra Hüller als Interpretin gewinnen konnten, war ein Glücksfall. Wir haben über ihre Agentur Kontakt aufgenommen, angefragt und wenig später das Signal bekommen, dass sie den Text spannend findet. Wir schätzen ihr Understatement, ihren pointierten Vortrag mit seinen vielen kleinen Nuancen. Es ist verblüffend, wie sich der Text auflädt, wenn sie ihn liest, zu erleben, dass er – von einer Frau gelesen –, in Details nochmal ganz anders wirkt, als wenn Volker Sielaff selbst ihn vorträgt.

Mit der Resonanz auf die Single sind wir bisher sehr zufrieden. Gerade brüten wir über Ideen, wie wir unseren Lyriktitel für das kommende Frühjahr auf ihrem Weg raus in die große weite Welt den nötigen Rückenwind geben können.