Kästners »zurechtgezimmerte« Maxime lässt sich wie viele seiner Aussagen auf die heutige Zeit anwenden: Die Bewältigung von Krisen ist nur in der Bewegung möglich. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Doch der Leitgedanke inspirierte Das Erich Kästner Haus für Literatur nicht nur zu neuem Mut in der Krise, sondern auch zu Gedanken über Nachhaltigkeit in der Kultur.
Das Wechselverhältnis von Mensch zu Mensch und Mensch zu Natur sei es gewesen, was Andrea O’Brien ganz besonders aus Kästners Maxime las. Utopien und Albträume der Moderne wollte die Geschäftsführerin und Programmleiterin thematisieren. In der Beschreibung der Lesereihe heißt es:
In ihr [der Moderne, A.d.R.] dominierte der Glaube, die Welt ließe sich gestalten und der Fortschritt sorge quasi automatisch für ein besseres Morgen. Ohne den Begriff zu verwenden, hat sich Kästner für einen nachhaltigen Umgang mit lebensnotwendigen Ressourcen eingesetzt. Die menschliche Unvernunft und (Selbst)Zerstörungswut hat er gründlich erfahren und vielfach literarisiert. Nicht nur die Vernichtung der eigenen Lebensgrundlagen und der Natur prangert Kästner an, auch der eklatante Mangel an Empathie und Gemeinsinn als Gegenpol zu einem nachhaltigen Zusammenleben ist ein wiederkehrendes Thema in seinen Texten für Kinder wie für Erwachsene.
Das Kästnerhaus interessierte sich für die Bedeutung von Natur für literarische Kreativität, für Literarisierungen von Natur und Anregung von Naturerfahrungen. Auch dem Fantastischen soll Bedeutung zukommen. Wie schwingt das Pendel heut aus zwischen Selbsterhaltung und Selbstentfaltung? Inspiriert Natur die Schaffenskraft, oder kann Literatur gar Ressourcenbewusstsein anregen?
Die letzten ihrer Art
Die erste Veranstaltung fand im Januar statt, eine Sachbuchpräsentation zum Aussterben der Arten: Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch – Ulrike Sterblich und Heiko Werning sprachen über Ein prekäres Bestiarium (Galiani, Berlin). Das Erich Kästner Haus ist überzeugt: Die Bewältigung der Zwillingskrise – Rückgang der Artenvielfalt und Klimawandel – wäre Kästner ein Anliegen gewesen. Heimische Flora und Fauna hat er in seinen Werken oft thematisiert; in seiner Jugend begeisterter Leser von Die bunten Bilder aus dem Sachsenlande weitete er schließlich den Blick auf andere Kontinente.
Jetzt soll die Veranstaltungsreihe fortgesetzt werden, am liebsten über das ganze Jahr. Der Entscheid über die Förderung bei der KDFS steht noch aus, doch die zweite Lesung ist terminiert: Diese Woche setzen die Veranstalter dem Okapi lyrische Weiblichkeit entgegen. Kästner hätte das gefallen: Die eingeladenen Autorinnen bewahren sich ihren Humor trotz Ernsthaftigkeit. Carolin Callies sollte das Haus schon lange besuchen, auch wegen ihrer Verbindung zur Tonkunst. Flausen hieß ihr letzter Podcast, seit April wird er in Kapriolen fortgesetzt, darin stellt sie Autorenkolleg*innen auf die Probe. Andrea O’Brien schwärmt von der Dichterin: »Sie hat eine wunderbare Stimme!«
Mit der Lyrikerin Marion Poschmann ist Callies gut bekannt. Sie verbindet nicht nur ein tolles Werk, sondern auch eine offene Haltung; beide sind experimentierfreudig. Auf elegante Art werden Inhalte oft implizit vermittelt. Beide sind hochpoetisch, größtenteils schreiben sie Lyrik. Für ihr neues Buch teilchenzoo wurde Carolin Callies mit dem Förderpreis des Deutschen Preises für Nature Writing und einem Stipendium des Deutschen Literaturfonds geehrt. Sie wage damit »ein großes Experiment, um das Allerkleinste in Worte zu fassen.« Marion Poschmann schreibt auch Prosa, in der die Natur tonangebend ist: In ihren Roman Die Kieferninseln erzählt sie von Japan, Wandermönchen und dem Mond über Kieferwipfeln. 2018 erhielt sie für das Werk den Klopstock-Preis und stand auf den Shortlists des Deutschen Buchpreises sowie des Man Booker International Prize 2019. Betrachtet man die Trends zur Achtsamkeit – vom Dankbarkeitstagebuch bis zum Waldbaden – erscheint die Beliebtheit der Naturlyrik als folgerichtiges Symptom der Moderne.
Vorbild: Kultur
Andrea O’Brien ist wichtig: »Die Veranstaltungen sollen offene Räume haben. Wir wollen nicht zynisch oder fatalistisch werden, sondern versuchen, etwas aus der Not zu machen.« Der Titel der Reihe hängt auch mit einem neuen Erich Kästner-Band zusammen. Resignation ist kein Gesichtspunkt steht für seine Auffassung, der Mensch könne an sich nicht besser oder vernünftiger werden; trotzdem muss man damit umgehen. In seiner Rede vor dem PEN erklärte er einst: Was ihm Antrieb gäbe, sei, wie sich überall auf der Welt Menschen für humanitäre Dinge einsetzten – das schulde man seinen Mitmenschen.
Andrea O’Brien begreift die Kulturschaffenden auch als Vorbild für die jüngere Generation: »Die Weltpolitik kann Jugendliche depressiv machen, sie fühlen sich leicht ohnmächtig. Heute sind junge Menschen sehr gut informiert, doch nicht alles, was sie mitkriegen, können sie gut einordnen oder vollständig durchdringen. Für die Zukunft baut sich dann eine Drohkulisse auf. Wir müssen vorleben, dass man nicht kapituliert, Zuversicht finde ich wichtig.«
Im Juni stellt sich mit Bekanntgabe der Förderungen heraus, ob die Veranstaltungen zur Jahresreihe fortgesetzt werden. Man könnte das Thema dann weiterdenken, zum Beispiel Literatur interdisziplinär zeigen und dazu Workshops anbieten, um den Diskurs ausbauen, ohne sofort ein anderes Projekt anzuschieben – auch das wäre schließlich eine Form von Nachhaltigkeit.
Text von Josefine Gottwald
Die Lesung mit Carolin Callies und Marion Poschmann findet am 11. Mai 2023 um 19 Uhr statt. Mehr zur Veranstaltung
Zum Weiterlesen
Die Reihe auf kaestnerhaus-literatur.de
Die Lesebiografie – Sechs Bücher aus dem Regal von Andrea O’Brien