Marcel Beyer liest beim Jubiläum für Ostragehege
16.11.2021
Tomas Gärtner

Ein Land namens Ostragehege

Jubiläum: 100 Nummern der Dresdner Zeitschrift für Literatur und Kunst sind erschienen. Marcel Beyer gratulierte mit einer Festrede

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Die Idee für den Titel soll Heinz Czechowski (1935-2009) gehabt haben. Als die Gruppe von Künstlern und Schriftstellern 1994 schon reichlich erschöpft von der langen Diskussion war, erinnerte der Dichter an Caspar David Friedrichs Gemälde Das Große Gehege (um 1832) und an Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug, den 1969 veröffentlichten Roman des US-Amerikaners Kurt Vonnegut. So hätten es Beteiligte überliefert, erzählt Axel Helbig, einer aus der vierköpfigen Redaktion. Ostragehege – an diesem Ort, fand Czechowski, trafen bildende Kunst und Literatur zusammen. Genau das, was die Dresdner Zeitschrift, die in der Regel vierteljährlich in 500 Exemplaren erscheint, miteinander zu verbinden suchte.

Wie programmatisch der Name dieser Dresdner Kunst- und Literaturzeitschrift gewählt war, konnten die Gründer wahrscheinlich nicht ahnen. Jetzt, mit dem Erscheinen des hundertsten Heftes, hat es uns Marcel Beyer in einer kompakten Festrede bewusst gemacht. So eingehend wie der am Niederrhein aufgewachsene Schriftsteller, der seit 1996 in Dresden lebt, dürften nur wenige Alteingesessene dieses »Große Gehege« betrachtet haben, das Caspar David Friedrich um 1832 gemalt hat.

Das Ostragehege zeige es? Ja, Pustekuchen! Die Baumreihen? Standen tatsächlich im mecklenburgischen Breesen, wie Marcel Beyer mit seinem so unbeirrbar scharfen Blick in die historischen Hintergründe analysiert. Aber die Höhen da? »Auch die Hänge im Hintergrund haben mit Radebeul wenig zu tun.« Und erst dieser Betrachterstandpunkt. Eine Perspektive, die nicht menschenmöglich sei, es sei denn, man besäße sechs Meter lange Beine.

Wenig lässt Marcel Beyer übrig vom realen Idyll: ein nicht weiter bemerkenswertes Stück Schwemmland, bekannt nur durch diesen Maler. Den größten Raum nimmt Himmel ein. Es ist eben nicht abgemalt, sondern komponiert. Die einzig mögliche Antwort der Kunst auf die entstehende Photographie.

Zugleich habe Friedrich damit einen imaginären Weg aus der lokalen Enge entworfen. Eben das, was Literatur tue – und auch die Zeitschrift Ostragehege. Die eben nicht Organ einer in sich abgeschlossenen Szene sein will. Das hat für Marcel Beyer einen utopischen Zug: deutschsprachige Literatur ins Verhältnis zu bringen zu nichtdeutscher. Unterschiedliche Entwürfe einer weltumspannnenden poetischen Sprache nebeneinander zu stellen in diesem Dreieck zwischen Prag, Breslau und Dresden.

Polnische Schriftsteller wie Stefan Chwin, Pawel Huelle, Andrzej Stasiuk hat Marcel Beyer dank Ostragehege kennengelernt. Übersetzer sorgen also nicht minder für literarischen Wert, als »Spurensucher und Spurenentdecker«. Die Gedichte von Elke Erb oder Róža Domašcyna, die dort erschienen, zeigten dem Zugezogenen eine mögliche Literatur nach dem Ende der DDR.

Dieses »Land namens Ostragehege« existiere nur in der Sprache. Marcel Beyers Utopie: »Das imaginäre Ostragehege könnte eines Tages auch jenseits der Literatur Wirklichkeit werden.«

Wie viel Welt und anderen Künsten – dem Jazz zum Beispiel – Marcel Beyer in seinen eigenen Gedichten Raum gibt, ist in Blaue Noten auf weißem Papier nachzulesen, abgedruckt in diesem Jubiläumsheft. Ein dreifach so dickes wie sonst, eine »Anthologie deutscher Gegenwartslyrik« – da hat Ostragehege-Redakteur Axel Helbig nicht übertrieben.