Verleger Viktor Hoffmann will in Austausch mit der Szene kommen (Foto: Thelem Verlag)
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15.03.2023
Josefine Gottwald

»In der Peripherie reicht man sich die Hand«

»fortfolgendes« ergänzt den Thelem Verlag

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25 Jahre Verlagserfahrung feiert das Dresdner Haus Thelem. Das Jubiläum begeht das Team mit einem neuen Weg: »fortfolgendes« wird das Imprint für junge Literatur.

Es war einmal … ein Souterrain eines Altbaus mit einem privaten Archiv von Tieck-Texten, wo kreative Köpfe eine Idee entwickelten. Der Gymnasiallehrer, die SZ-Redakteurin, die Studentin im Fachschaftsrat, die Physiklaborantin, die Rentnerin und der Theater-Mitarbeiter gehörten zu dem Kreis, der Tagungsbände und Dissertationen druckte – bis er beschloss, Literatur zu machen.

So kann man die Geschichte erzählen, die ich höre, während ich in einem Kaffee rühre, den ein männlicher Kollege gebracht hat. Bei Thelem macht man einiges anders.

Die Idee zu einem Publikationsorgan für die TU Dresden hatte 1998 Kulturwissenschaftsprofessor Walter Schmitz – der Sammler des Tieck-Materials. Ich habe ihn bei der Verleihung des Chamisso Preises Dresden/Hellerau reden hören; in seinen deckenhohen Regalen beherbergt er unter anderem den Roman des ehemaligen Stadtschreibers Massum Faryar.

Pfade wie Gehirnwindungen

Bisher betreute Schmitz‘ Team wissenschaftliche Publikationen: Im Bereich Architektur, Kulturwissenschaften, Volkskunde, Literaturwissenschaft, Philosophie und vor allem für MINT-Fächer, die vom Imprint TUD Press abgedeckt werden. Das Label Thelem steht für Geisteswissenschaften, zunehmend auch Sachbuch: Einer dieser Ausflüge ist die Publikation der Kempelen-Sammlung, einer Ausgabe von Dichtungen aus dem 18. Jahrhundert, die ein hauptberuflicher Ingenieur verfasste, herausgegeben von einer Wiener Literaturwissenschaftlerin. Autor Wolfgang von Kempelen, 1734 geboren, ging mit seiner erstaunlichen Fantasie als Schöpfer des »Schachtürken« in die Geschichte ein, eines vermeintlichen Automaten, der menschlicher Intelligenz gleichkommen sollte. Neben der Mechanik war Kempelen musisch, poetisch und grafisch begabt – vielleicht ist Thelem der einzige Verlag, der dieses Spektrum würdigt.

Der Institutsdirektor in der Festkörperelektronik, Professor Gerlach, veröffentlichte hier im Haus schon mal die Spickzettel seiner Studenten. Bisher hielten alle Werke irgendwie Verbindung zur Wissenschaft. Mit der Uni habe der Verlag aber nichts zu tun, erklärt der stellvertretende Geschäftsführer Viktor Hoffmann, seines Zeichens Lehrer für Deutsch und Geschichte: »Dort gab es nie Ambitionen zu Kooperation mit uns oder Gründung eines eigenen Verlags.«

Thelem ist »der Wissenschaft und der Bildung gewidmet, dem Besten, was wir am europäischen Erbe haben«, erklärt das Verlagsprogramm. Viktor Hoffmann ist seit 16 Jahren im Team. Als er begann, stellte sich die Frage, ob man den Verlag für das Sachbuch öffnen sollte. Von Cornelius Pollmer erschienen damals Reportagen aus Sachsen und Ostdeutschland – mit diesen Texten konnte man auch Lesungen veranstalten. Solche gab es schon von Professor Groh, aber sie sollten frischer werden, weiter weg vom Wasserglas.

Mit dem Imprint fortfolgendes will der Verlag sich als Player in der literarischen Szene etablieren, eine Literatur machen, die Literatur ist, erklärt Hoffmann: »Erfahrung in den Abläufen und Pressekontakte sind lange vorhanden. Wir haben eine bessere Ausgangsbasis als ein Verlag, der ganz neu anfängt.« Als Start von einer Rampe bezeichnet er das.

Der Verlag bestand aus 2 bis 3 Personen, als Viktor Hoffmann als Verleger begann, inzwischen ist sein Kreis auf 7 Leute angewachsen. Die Hauptwirkungsbereiche der Teilzeit-Mitarbeiter und freien Kräfte bringen zugleich bereichernde Expertisen ein: Aus dem Theater, dem Fraunhofer-Institut oder der Universität kommt ein Team junger Macher zusammen, die auch lektorieren und texten können.

Relevanz und Realitäten

Ein Herzensprojekt des Gründers Schmitz war neben dem Tieck-Archiv die Literatur der Migration: Nach der Etablierung der Wortwechsel-Reihe kümmerte er sich um die Neuauflage des Chamisso-Preises, nachdem er von der Bosch Stiftung nicht mehr verliehen wurde. Zuerst in Hellerau, nun gemeinsam mit der Kulturstiftung Sachsen, wird die Auszeichnung im St. Benno Gymnasium, einer Schule in freier Trägerschaft, an ausländische Autoren, die im deutscher Sprache schreiben, vergeben. Allein durch seine Tradition erlangt der Preis Bedeutung, erklärt Hoffmann: »Der Chamissopreis entwickelt Strahlkraft über Sachsen hinaus.«

Solche Kooperationen wünscht der Verleger sich auch für das fortfolgendes-Programm. Um Förderung habe er sich – zugegeben enttäuschend – bisher erfolglos bemüht. Trotzdem bleibt er zuversichtlich: »Was ein Buch teuer macht, lösen wir im Moment ehrenamtlich.« In Ordnung ist das natürlich nicht, schon zu viele freie Lektorinnen, die Literatur studiert haben, rackern als Kleinstunternehmer zu Dumpingpreisen. Dass es wirtschaftlich schwierig wird, war dem Verlagsteam klar. Man wollte vor allem etwas machen, was kulturell relevant und vorzeigbar ist, einen Kollektivcharakter gemeinsam mit den Autoren schaffen, nicht mehr nur Dienstleister für die Wissenschaft sein.

Das Konzept sollte das neue Programm auch gleich in die Breite aufbauen. »Ein einzelnes Buch bringt nicht viel«, erklärt der Verleger, »wir beginnen mit einer kleinen Sammlung.« Drei Werke sind nun erschienen, und sie beleuchten das ganze Spektrum der Literatur.

Handreichungen für Originalität

»Auf unseren Aufruf bekamen wir zunächst 2 bis 3 Einsendungen pro Woche, wahrscheinlich wird es noch mehr werden, je mehr wir uns etablieren. Wir wollen mit den Autor*innen gemeinsam wachsen.« Darum suche er auch nicht nach etablierten Namen, er wolle die Künstler*innen abholen, wenn sie noch Sicherheit suchen, aber idealerweise schon eine erste Community mitbringen.

Als ich zugebe, die Autor*innen nicht zu kennen, erklärt er: »Das ist auch gut so!« In der Peripherie reiche man sich die Hand, weiter oben brauche es mehr ökonomische Verhaftung. Die Schreibenden, die fortfolgendes sucht, dürfen aus strukturschwachen Regionen kommen. Hoffmann vertritt die Ansicht: »Wer in Berlin Mitte schreibt, muss nicht bei uns verlegen, der findet leicht andere Interessenten.« Er will dort suchen, wo größere Häuser sich nicht die Mühe machen, weil sie zu wenig Erfolgspotenzial sehen. Eine Stärke der kleinen Strukturen? Der Druck erfolgt über eine Bremer Druckerei, die Kommunikation lässt sich dort feiner abstimmen als mit internationalen Partnern.

Ausgesucht habe das Team die Debüts nach Geschmack und Konzepttauglichkeit: »Drei Lyrikbände wären too much gewesen, man spricht damit ein zu einseitiges Publikum an.« Gerade bei der Etablierung einer neuen Marke muss man Charakter schaffen; die Autor*innen der drei Werke steuern eifrig dazu bei.

Junge Stimmen von hellen Köpfen

Friedrich Schollmeyer ist der Lyrikautor mit dem Titel der verschwommenen Schwäne. Der promovierte Philosoph schreibe Gedankenlyrik, erklärt der Verleger, auch Spaziergänge in Reimen, die zu Balladen werden. Modern findet Hoffmann das nicht, aber der Autor gehe mit den Formen souverän um. Sein persönliches Lieblingsgedicht vermittelt das Gefühl, das man beim Finden alter Spielsachen auf dem Dachboden hat.

Tim Preuß schreibt hingegen lieber über Literatur. Den Literaturwissenschaftler trieb vor allem innere Unzufriedenheit: Mit der Art, wie bisher Literaturkritik gemacht wird, war er nicht einverstanden. Sein Werk begreift Hoffmann als Sandwich-Buch: Die Sammlung der privat geschriebenen Rezensionen wird umrahmt von einer Abhandlung zu dem, was Literaturkritik soll und der Frage nach der literarischen Botschaft, sowie einem Ausblick, wie sich die Literaturlandschaft verändern könnte, wenn man diesem Aspekt mehr Gewicht geben würde. In seinen Texten setzt Preuß gezielt Gegenakzente zu Beispielen der Popliteratur: Seine ganz persönliche Sicht zu Faserland, Soloalbum oder Tschick.

Liis Kasepha steht pseudonym für eine junge Autorin, die viel Leben erfahren hat. Sie hat einen Roman geschrieben, den Hoffmann als fragmentarisch sieht. Es geht um zwei Frauen, aber bis zum Schluss bleibt unklar, ob es vielleicht doch nur eine ist. Eine von ihnen verschwindet jedenfalls. Das Buch sei surrealistisch mit vielen Blickpunkten, die insgesamt nicht unbedingt ein eindeutiges Bild ergeben; gelagert zwischen Selbst- und Fremdfindung, dabei voll harter und kalter Stadterfahrungen – inspiriert von Neustadt-Randbereichen. Kasepha bringt Lebenserfahrung in ihrer Literatur. Ihr Buch wird von jedem anders gelesen.

Seit November haben die Autor*innen außer in Dresden in Halle, Leipzig und Chemnitz gelesen. Auf der Bühne erzählen drei junge und sehr verschiedene Menschen von ihrem Schreiben und ihren Gedanken. Viktor Hoffmann erklärt: »In der Begegnung gewinnt die Literatur etwas Dialogisches. Das ist etwas anderes, als wenn der/die Leser*in mit dem Buch allein ist. Es senkt auch die Schwelle, sich an diese Literatur ranzuwagen.« Die Künstler*innen sind greifbarer – natürlich auch angreifbar.

Im Herbst will fortfolgendes drei neue Bücher vorweisen, dafür sucht Hoffmann jetzt Talente. Die Energie zieht er aus der Begeisterung. Bleibt mir, ihm Kraft für die Bürokratie zu wünschen; an klugen Köpfen voller Gedanken mangelt es uns ja nicht.

 

Zu den drei Debüts

Friedrich Schollmeyer: Die Schwäne sind verschwommen (Gedichte)

Tim Preuß: Museum der Popmoderne (Kritik)

Liis Kasepha: Zwischen uns das Wasser (Roman)