Buno Kunter, Foto von Josefine Gottwald
20.07.2022
Literaturnetz Dresden

Menschen hinterm Buch: Der Klinikbibliothekar

Bruno Kunter ist der letzte Angestellte der Krankenhausbibliothek auf der Industriestraße

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Vollzeitjob oder Ehrenamt – Literatur ist Berufung! Buchbotschafter*innen setzen sich für das gedruckte Wort ein und verbinden Menschen mit Literatur, auf originellen Wegen … Wir sprechen mit leidenschaftlichen Leser*innen über Idealismus, Herausforderungen und Kraftquellen.

Bruno Kunter ist fest angestellter Bibliothekar beim Städtischen Klinikum in Dresden. Seit 34 Jahren bringt er Patienten Lesestoff bis ans Bett. Auch wenn es sich in Zahlen empirisch schwer messen lässt, glaubt er an die bibliotherapeutischen Effekte – also an die heilsame und sogar kathartische Wirkung der Literatur. 

Du hast Bibliothekswesen zu DDR-Zeiten studiert. Hättest du damals gedacht, dass du eine Bücherei für Patient*innen leiten würdest?

Das war anfangs in keiner Weise abzusehen. Erst durch ein Praktikum während des Studiums begann ich meine Berufsentscheidung etwas zu hinterfragen. Mir erschienen die einzelnen Verwaltungsbereiche zwar wichtig, aber zugleich sehr stereotyp, monoton und zu wenig auf die unmittelbare Arbeit mit Literatur ausgerichtet. Als ich dann aber auf die Diplomarbeit einer Kommilitonin stieß, die das Thema »Bibliotherapie« untersuchte, wurde mein Interesse geweckt. Ich sah darin ein spannendes Feld der Arbeit mit Literatur und wurde sofort in einen Bann gezogen. Mittlerweile decke ich seit Jahren schon zwei Bereiche ab: Die Patientenbibliothek und die Medizinische Fachbibliothek. Das ist facettenreich und nur mit der hervorragenden externen Unterstützung meiner Kolleginnen des Standortes Friedrichstadt möglich.

Das Krankenhaus scheint ja ein guter und exponierter Ort zum Lesen zu sein. Wie behauptet sich das Medium Buch in solcher Umgebung?

Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass fast jedes Buch oder Druckerzeugnis seinen eigenen Stellenwert hat. Nehmen wir zum Beispiel die sogenannte Trivialliteratur bzw. den Groschenroman. Woanders verachtet und geschmäht, hier im Krankenhaus, wo der Mensch sich mit seiner Versehrtheit auseinandersetzen muss, hat das Wort plötzlich einen anderen Einfluss. Und die Interessen sind auch in dieser Umgebung »universal«. Patienten sind oftmals empfindlicher in ihrer Wahrnehmung. Sie sind suggestibler. Sie sehnen sich einfach nach Gesundung, Ablenkung und Ruhe.

Man steht natürlich auch in Konkurrenz zu den TV-Bildschirmen, die seit der Jahrtausendwende in den Zimmern Einzug halten. Doch wie ein Fels in der Brandung stellt sich das Buch diesem erweiterten Service-Angebot. Die Neugier und Freude am Buch ist zwar weniger geworden, aber keinesfalls verlorengegangen. So manche Patienten, die im Alltagsstress keine Zeit dafür finden, entdecken gerade in dieser erzwungenen Ausnahmesituation die wohltuende Lust am Lesen wieder. Gefragte Favoriten sind neben den aktuellen Bestsellern stets auch regionale Krimis oder die telegenen Empfehlungen von Elke Heidenreich. Hier darf man getrost von einem positiven Aspekt der »Glotze« sprechen!

Wie hat sich deine Arbeit verändert? Ist die Pandemie spürbar gewesen?

Normalerweise fahre ich einmal pro Woche mit meinem Bücherwagen über die Stationen und biete den Patienten meine Auswahl an. Während des Lockdowns war das zeitweise gar nicht möglich, und auch die Leseinteressierten konnten nicht in meine Räume kommen. Das war ziemlich unbefriedigend.  Allmählich zieht zum Glück wieder Normalität ein. Die Patienten können mich auch jederzeit anrufen und mir ihre Lesewünsche mitteilen. Aber die stärksten (Struktur-) Veränderungen spürt man über die letzten 30 Jahre hinweg. Nur ein Beispiel: Als ich 1988 herkam, waren wir zu Viert und präsentierten patientenfreundlich sowie leistungsstark unser Angebot direkt im Eingangsbereich des Krankenhauses.

Die Ökonomie scheint eine der größten Herausforderungen im Kulturbereich zu sein …

Finanz- und Personalentscheidungen unter dem Zepter der Ökonomie wirken sich meistens restriktiv auf den betroffenen Bereich aus. Der von einem Management gepriesene »Synergieeffekt« entpuppt sich rasch als Euphemismus für Rationalisierung und Qualitätseinbuße. Und da stehen wir eben auf einem Feld des politischen Willens. Wenn man Gelder einsparen möchte, wird bei den kulturellen Dienstleistungen der Rotstift zuerst angesetzt. Zeitweise war es kafkaesk: Die Patientenbibliothek sollte weiter existieren, nur die Räume standen dafür nicht mehr zur Verfügung. Hingegen 10.000 Werke wollen auch irgendwo untergebracht werden. Ich habe das jetzige Konzept dann selbst entwickelt und diese nach einer gezielten Inventur mit in die Medizinische Fachbibliothek integriert. Das ist alles andere als ideal, da sich diese auf der anderen Straßenseite des Klinikkomplexes befindet. Aber ich muss zufrieden sein. Denn immerhin akzeptiert unsere Krankenhausleitung am Standort Neustadt eine Bibliotheksbetreuung der Patienten. Angeblich sollen ja am Portal der legendären Bibliothek von Alexandria auch die Worte »Heilstätte des Geistes« (der Seele) gestanden haben.

Sind das die Momente, die Kraft geben?

Ein Kraftquell ist für mich auf jeden Fall der Humor. Selbst wenn er nihilistisch daherkommt, wie bei Benn, Charles Bukowski oder Wolf Wondratschek. Natürlich sind nicht selten das Schicksalhafte und die Seelennot während einer Krankheit präsent. Und es beschäftigt einen nicht selten länger als gedacht. Etwas verwissenschaftlicht gesprochen, ist die bibliothekarische Variable in einem »ganzheitlichen« Netz eingebunden und damit der psychosozialen Basisversorgung zuzuordnen. Man könnte auch sagen, dass ich so ein niederschwelliges Angebot im Rahmen der Volkspsychologie offeriere. Wenn es um die Identifikation mit Leid geht, fällt mir sofort Erich Kästner ein. Er meinte, es tut gut den eigenen Kummer von anderen Menschen formulieren zu lassen. Ein nicht von der Hand zu weisender Gedanke!

Als ich vor mehr als 30 Jahren auf meiner Stelle anfing, hatte ich noch ordentlich Zeit, thematische Literaturveranstaltungen durchzuführen bzw. zu organisieren. Im Zuge der verkürzten Liegezeiten und der personellen Lage ist das leider nicht mehr möglich. Trotzdem sind die erste Begegnung und das persönliche Gespräch die »Lese-Pforte« zum Patienten.

Wie läuft das ab? Gibt es für jedes Leiden das richtige Buch?

Es könnte sein. Davon zeugen Bücher wie der balsamische Literaturkanon Die Romantherapie. Verfasst von Ella Berthoud und Susan Elderkin. Beide arbeiten übrigens in England als Bibliotherapeutinnen. Die wissen entsprechend genau, wovon sie schreiben. Oder man denke an Nina Georges Lavendelzimmer, Kästners Lyrische Hausapotheke etc. Aber mit der Frage, was in der letzten Zeit das fesselndste oder berührende Lektüre-Erlebnis war, lote ich rasch die Interessen aus und habe schnell eine Alternative parat.

Da kommt dein Fundus ins Spiel. Alle Bücher deines Bestands hast du auch im Kopf?

Bei der Titelmenge ist das selbstverständlich nicht möglich. Aber aus Erfahrungen heraus kann ich intuitiv aus dem Bestand schöpfen und damit die Leser zu einem Sujet navigieren. In solch einem Fall gebe ich gern Empfehlungen, die im neuzeitlichen Buchhandel in Vergessenheit geraten sind.

Auf meinem Wagen fährt gerade Sándor Márais Die Glut mit, in guter Gesellschaft von Patrick Modianos Pariser Trilogie, Hesses Kunst des Müßiggangs oder Chandlers Gefahr ist mein Geschäft. Ein multiples Sortiment also …

Gibt es noch andere Aufgabenbereiche in der Bibliothek?

Für das Mitarbeitermagazin der Klinik schreibe ich regelmäßig Literatur-Rätsel und gelegentlich gern kurzbiografische Portraits von »verschollenen« wie auch umstrittenen Autoren (August Strindberg, Hugo Ball, Louis-Ferdinand Céline …). Mich interessieren vorwiegend Künstler und Denker, die im Widerspruch stehen, polarisieren und nonkonformistisch ihren Eigensinn leben. Schon zu DDR-Zeiten bevorzugte ich die literarische Konterbande und das subversive Lesen.

Hast du einen Universaltipp? Ein Buch, das dir einfach am Herzen liegt?

Das ist schwierig zu benennen. Zurzeit vertiefe ich mich in Die verlorene Schwester von Heinrich Thies. Es war mir bislang unbekannt, dass Erich Maria Remarque eine Schwester namens Elfriede hatte, die in Dresden lebte und nach einer Denunziation vom Blutrichter Freisler zum Tode durch das Fallbeil verurteilt wurde.

Dann gibt es uneingeschränkt die immensen Säulen der individuellen Lesebiografie. Allesamt für mich zeitlose Dichter. Dazu zählen, wenn ich mal aus dem Steggreif »automatisch« aufzählen darf: Henry Miller, Blaise Cendrars, Boris Vian, Patti Smith, Mascha Kaléko, Susan Sontag, Ernst Jünger, Ernst von Salomon, Knut Hamsun, die Digedags. Oder um beim überaus intelligenten Comic zu bleiben: die Geschichten aus Entenhausen (natürlich in der famosen Nachdichtung von Erika Fuchs!).

Das Interview führte Josefine Gottwald

 

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