70 Jahre Jayne-Ann Igel, das mutet nicht wie ein Geburtstag an, eher wie das Jubiläum einer Ära. Einer Epoche, die vor allem von Sensibilität und Sinneswahrnehmung geprägt ist, und gleichzeitig von einem Weg, den die Dichterin mit aller Entschlossenheit beschreitet: Jayne-Ann Igel schreibt nicht an der Schreibmaschine. Sie fährt viel Rad und fotografiert mit dem Handy; sie ist eine moderne Frau – nun schon seit 1954, auch wenn sie damals noch im Körper eines Mannes wohnte …
»Mein Vater war zu DDR-Zeiten Angestellter im Strafvollzug. Wir wohnten am Leipziger Stadtrand, in Nachbarschaft zu der Vollzugsanstalt.« Als Kind sah sie das Gefängnis von außen, später, 1974, wurde sie einmal aus politischen Gründen inhaftiert, für anderthalb Monate. Inzwischen scheint ihr das so lange her, als wäre es in einer anderen Welt passiert – irgendwie ist es so ja auch.
Alles, was sie braucht, wenn sie aus dem Haus geht, trägt sie in ihrem Blazer, deswegen fährt sie bei warmem Wetter lieber Rad. Sie zeigt mir den Biobahnhof von Klotzsche; hier oben, in dem Stadtteil, der wie mit einer S-Bahn-Nabelschnur an der Plazenta der Innenstadt hängt, lebt sie nun 30 Jahre. Sie kam der Liebe wegen hierher.
»Ländlicheres Leben entspricht mir«, findet sie. Als Kind sammelte sie Obstbäume für Apfelmus ab, alte Alleen säumten die Felder. Landschaften sind ihr bis heute wichtig, als Motive beim Schreiben und in der Fotografie. Das Gemeindehaus Alte Post zeigt ab September eine ihrer Bilderausstellungen.
Ihr neuer Gedichtband ist der dritte, der mit Fotos erscheint. Der Titel Wolken hinterm Rollo fiel ihr zu: »Ich musste das Buch einfach so nennen«. Es wird ihr sechstes Buch im Gutleut-Verlag; inzwischen gibt es zu ihren Werken dort sogar einen Schuber.
Ein aufmüpfiger Geist
Waren die Anfänge mühsam? »Nein, nur das Land war mühsam!« In der DDR veröffentlicht sie 1987 in der prominenten Kulturzeitschrift Sinn und Form, später auch in Temperamente. Damals wurde sie schon ohne einen eigenen Band oft zu Lesungen eingeladen, vor allem durch Empfehlungen. Teilweise wollten die Kulturhäuser vorher Texte sehen; später hielt sich die Leitungsebene nicht mehr an diese Vorgabe.
»Die DDR war im Zerfall begriffen. Ab Anfang der 80er Jahre agierte man weniger restriktiv, man konnte einfach nicht mehr alles kontrollieren, was man gern wollte …« Eine Veröffentlichungsgenehmigung hat sie darum nie beantragt. Sie sagt: »Zu Beginn der 80er kursierte ein aufmüpfiger Geist in der Kunstszene! Nicht mehr nur die Jungen strebten danach, sich zu entgrenzen – alle Menschen wollten das.«
Ab den 70ern hat sie viele Gedichte gelesen. Ein Band von Paul Verlaine hat sie sehr begeistert, das war ihre Einstiegsdroge. Walter von der Vogelweide schenkte man ihr zum Schulabschluss. Sie erklärt: »Unter meinen Klassenkameraden galt ich als Existenz, die schreibt …«
1989 im August erscheint bei S. Fischer im Westen Das Geschlecht der Häuser gebar mir fremde Orte. Im Mai desselben Jahres veröffentlicht sie das Poesiealbum, Lyrik mit Grafiken im DDR-Verlag Neues Leben Berlin. Die Texte aus beiden Bänden entstammen derselben Zeit, teilweise bezeichnet die Dichterin sie als Miniaturen.
Überhaupt denkt sie nicht über Lyrik und Prosa nach, diese Grenze sollte man nicht zu früh einziehen. Unerlaubte Entfernung (2004) sieht sie vor allem als Erzählung, Berliner Tatsachen (2009) umfasst eine Kernerzählung mit einem Text davor und danach. Auch einen Roman hat sie schon probiert. Damals wollte sie unbedingt, das hat den Roman blockiert.
»Am besten ist es, ganz zu vergessen, dass man etwas will. Das Wollen verhindert ein gutes Werk.« Schon als Kind wusste sie, dass es ihr Ding ist zu schreiben: »Aber das muss man ausblenden, sonst fließt es nicht. Du kannst dir nicht vornehmen, du willst einen Roman schreiben, das ist Quark, es funktioniert andersherum!«
Bei der Wahl der Form kommt es ihr nicht auf das Thema oder die Figuren an, sondern darauf, ob ihr eine tragende Zeile einfällt. »Ich kann nicht vom Plot her denken und schreiben, ich werde eher assoziativ geleitet, manchmal umkreise ich Themen.«
Die Atmosphäre ist ihr wichtig. Beim Schreiben von Gedichten geht es ihr vor allem um Wahrnehmung, die Identität kann dabei durchschimmern, steht aber nicht im Zentrum. Landschaften kommen häufig vor, die Figuren sind eher offen gezeichnet. Sie erklärt: »Wenn ich über ein Haus schreibe, entdecke ich verschiedene Aspekte daran: Auch ein Gefängnis ist ja ein Haus.«
Die Beziehung zum Haus der Eltern war zeitweise schwierig, vor allem hing das mit ihrem Theologie-Studium zusammen. »Meine Familie hatte keinen christlichen Hintergrund. Mein Vater kam aus Schlesien und trat nach dem Krieg aus der Kirche aus. Er wollte damit nichts mehr zu tun haben.«
… häuser, in die wir immer wieder zurückkehren, traum-/gedächtnishalber, werden zu m u s t e r h ä u s e r n, die nach und nach all die anderen erlebten, erinnerten, versteinerten … ersetzen, sie sich einverleiben – ein hausfraß, eine hausverwesung und -verdichtung ohnegleichen, ein haus- ein wundbrand – wo sind sie, all die traumhäuser, wachräume, so sie nicht schon abgerissen sind?
Aus: Traumwache. Urs Engeler Editor, Basel 2006.
In der DDR sprach man kaum über Fluchterfahrungen. »Anfang der 70er, als das visafrei möglich war, fuhr mein Vater mit seinem Bruder nach Breslau in das Viertel, wo er als Kind gelebt hatte, aber das existierte so gar nicht mehr …«
Ähnlich enttäuscht reagierte er auf ihre Studienwahl. »Als junger Mensch interessierte ich mich dafür, wovon man so abgeschottet ist. Also beschloss ich, Theologie zu studieren!« Das Studium war umfassend und komplex, es beinhaltete Sprachen und Kunstgeschichte – in der DDR öffnete das ihr ein Tor zur Welt.
In gewissem Sinne kam Jayne-Ann Igel auch der Staat katholisch vor: »Man hatte konkrete Vorstellungen, wie die Dinge sein sollten. Die Situation war festgefahren, und obwohl es nicht funktionierte, hat man einfach weitergemacht!«
Bis dahin schrieb sie vor allem Wegwerfsachen, wie sie sie nennt. Dann kam der Tag ihrer Immatrikulation, es war ihr Geburtstag vor mehr als 50 Jahren. Die Stimmung war euphorisch, sie schrieb ein verrücktes Gedicht – danach war nichts wie vorher. Plötzlich dachte sie freier, nutzte ihre Bilder beinahe surreal. Sie beschäftigte sich mit dem Expressionismus, der literarischen Moderne … Ihr Freundeskreis war in dem Bereich ambitioniert; Thomas Böhme gehörte dazu.
Die Seele im falschen Körper
Doch ihr Vater war zu enttäuscht von der Kirche und brach den Kontakt ab. Teilweise fuhr sie heimlich auf Einladung der Mutter heim. Sie exmatrikulierte sich, als es mit dem Schreiben mehr wurde und sie begriff, dass sie als Theologin nicht wirksam werden wollte: »Ich empfand das als ehrlicher als das Studium fortzusetzen.« Danach haben ihre Eltern sie auch besucht. Dass es dafür einen so drastischen Schritt brauchte, nennt sie heute schade.
Bis Ende der 80er Jahre arbeitete sie halbtags neben dem Schreiben – ein Meisterstück in der DDR! Dazu nahm sie eine Stelle als Küchenhilfe am Leipziger Gewandhaus an, später war sie im Gesundheitswesen im Büro. Auch Bibliotheksarbeit prägte sie, und sogar die Verwaltung eines Pfarramts …
Am Wochenende vor unserem Treffen sprach sie am Literarischen Kolloquium Berlin auf dem Podium von »Coming Out, Inviting In« über queere Literatur der Vergangenheit. Ihrer Ansicht nach sollte die aber nicht hervorgehoben, sondern einfach als Teil der Literatur betrachtet werden, sonst ist es zu bemüht.
»In den 70ern trat das geballt auf«, sagt sie, »gerade zu Beginn – Hubert Fichte, Christa Wolf und Sarah Kirsch haben da veröffentlicht. Man stellte Geschlechterrollen infrage.« Jayne-Ann Igel hat das damals nachhaltig beeindruckt. »Diese Literatur war wichtig für uns in der DDR. Generell müssen Künstler*innen alles hinterfragen. Man muss Dinge aufbrechen, ohne sich verpflichtet zu fühlen. Gerade dort, wo es Widerstände gibt, entfaltet sich Kreativität!«
Ein wichtiger Punkt ist ihr dabei Selbstverständlichkeit: »Wer lesbisch oder schwul ist, will nicht primär irgendeine Flagge hochhalten, er will respektiert und angenommen sein, einfach leben. Aber er begegnet sein Leben lang Versuchen der Einordnung – die einfach unklar ist. Dabei sollte diese Einordnung doch für jede Person immer offen sein!« Sie denkt: »Das Ganze ist eine soziale Geschichte, es geht dabei um Teilhabe am öffentlichen Leben.« Die Queer-Brille trägt sie im Alltag nicht, sie gesteht sogar: »Wahrscheinlich war ich auf diesem Podium in Berlin die unqueerste Person …«
Heut ist sie glücklich, zu sich gekommen zu sein, nicht mehr gegen sich selbst zu kämpfen – sie sagt: »Auch mit allen rechtlichen und operativen Schritten … Irgendwann will man angekommen und wahrgenommen werden – modern sagt man gelesen werden.«
Ihre ersten öffentlichen Auftritte hatte sie als Bernd Igel. Zwangsläufig musste sie die Schriftstellerei mit ihrer alten Identität aufbauen und Lesungen halten, auch wenn sie sich in ihrem Körper nicht wohlfühlte. Sie hatte für ihr Problem keine Lösung, und sie sprach auch nicht darüber.
Ende der 80er reist sie viel, vorrangig in der BRD, aber auch bis nach Utrecht. Das Ost-West-Festival mit Eddi Endler ist ihr eine wunderbare Erinnerung. Sie kann sich nun freischaffend nennen. Ihre Buchhonorare beinhalten unter anderem dreimal 1.500 Mark für die Begleitung des Lektorats: »Das war unglaublich viel Geld!«
Später muss sie sich arbeitslos melden, ist dann halbtags auf einem Pfarramt bei Leipzig tätig und verwaltet Restaurierungsvorhaben. »Lange Zeit gab es noch kein etabliertes Stipendienwesen«, erklärt sie, »heut sieht es da besser aus.«
Mit unermüdlichem Einsatz hat sie sich der Kunst verschrieben. In ihrer Position im Vorstand des Sächsischen Literaturrats sensibilisiert sie lokale Politiker, was das literarische Leben in Sachsen braucht. Dazu zählt die Anpassung von Honoraren: »Auch digitale Projekte verursachen Kosten, das haben manche gar nicht auf dem Schirm!« Das Streaming von Veranstaltungen empfand sie als Bereicherung. »Eigentlich sollte man das beibehalten …«
Nach der Einführung von Hartz IV engagiert sie sich bei der Linken, zehn Jahre war sie dort ehrenamtlich im Vorstand tätig. Heut denkt sie: »In der DDR war ich vielleicht sogar linker als die SED …«
Bis 2018 ist sie auch Redakteurin im Ostragehege. Daneben kuratiert sie gemeinsam mit Jan Kuhlbrodt die Reihe Neue Lyrik der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, die im Verlag Poetenladen erscheint. Im Wechsel gibt sie dort einen Debüt-Band und Werke von etablierten Dichter*innen heraus. Lektorat und Nachwort teilt sie sich mit dem Co-Herausgeber. Das neue Debüt von Anna Zepnick hat sie betreut. In den nächsten Wochen organisieren sie gemeinsam eine Veranstaltung.
In Klotzsche plant sie alle zwei Jahre eine Literaturwoche mit. Die Veranstaltungsreihe im Haus der Kirchgemeinde ist spendenfinanziert und umfasst einen großen Buchbasar. Ich erinnere mich an eine Lesung mit Thomas Rösenlöcher in dem Gemeindehaus – da ging die Alte Post ab!
Im eigens gegründeten Wortwechsel-Netzwerk ergreift Jayne-Ann Igel gemeinsam mit weiteren Kulturakteur*innen Initiative für Vielfalt: Streaming-Diskussionen im Lockdown und Fishbowl-Gespräche im geschützten Kreis sollen den Diskurs anregen.
Feminismus ist ihr ein wichtiges Thema. Ende der 90er Jahre arbeitet sie für das Frauenstadtarchiv. Damals entstand mit Una Giesecke ein Sachbuch mit Biografien von dresdner Frauen. Besonders interessiert hat sie, welche Institutionen sich Frauen für ihre Aktivität geschaffen haben. Wie haben sie sich organisiert und welche Bedingungen hatten sie?
Sie erklärt: »Kommunale Frauenausschüsse waren nach dem Krieg zunächst eine demokratische Angelegenheit. Sie kümmerten sich um soziale Themen, verbesserten die Bedingungen für Frauen und die Gesellschaft, zum Beispiel die Kinderbetreuung. Nach Gründung der SED wurden diese Ausschüsse zunehmend von der Partei dominiert, die Vorstände mussten nun zwei SED-Mitglieder enthalten, dazu jeweils eines der anderen Parteien. So wurde der demokratische Ansatz ausgehebelt …«
Betreiber des Archivs ist der Verein zur Erforschung der Dresdner Frauengeschichte e.V. Aber die Dichterin bevorzugt den Begriff Geschichte von Frauen in Dresden.
Ist es ihr wichtig, Literatur von Frauen zu lesen? »Das ist kein Auswahlkriterium.« Im Moment liest sie Iris Wolff. Die Geschehnisse im Rumänien von 1989 und den Zeiten danach berühren sie – im Buch werden sie rückwärts erzählt, sodass sich immer die Perspektive ändert.
Wenn man in Jayne-Ann Igels Lyrik eintaucht, versinkt man in einem organisch gewachsenen Geflecht. Ihre Gedichte seien keine dissidentischen Gebilde, sagt sie, wie vielleicht Texte von Wolf Biermann: »Sie benennen nicht alles aufs Wort genau …« Oft beinhalten sie archaische Bilder oder Traumlandschaften. Ihr wird nachgesagt, sie schreibe dunkel und nicht fassbar; zeitweise sah sie sich als romantisch beeinflusst. Wichtig ist ihr, »dass Kraft darin steckt!« Seine Sinne in jeder Hinsicht gebrauchen, das ist ihr eigener Anspruch.
Übertretungen
in der heide erwachsen, diesen schattenverliesen, was kein wunder, nur ein strömen auseinanderfließen wohin, den lichteren rändern zu, sprich zivilisation, eine union geregelten aufwuchses, die schatten dort von anderer art, die linien scharf, die der übertretung, des übertritts ins freie, was dann das jenseits, nicht das gleiche –
Text vom August 2024
Tagebuch einer Existenz
In ihrer Jugend wurde sie zu den Weltfestspielen delegiert: »Da konnte man Dinge erleben! Honecker sagte ja anfangs, es dürfe keine Tabus mehr in der Kunst geben …« Im Zuge der kulturellen Öffnungen publizierten inzwischen Elke Erb oder Ulrich Plenzdorf. »Trotzdem gab es bei dem Event die Anordnung, um 24 Uhr wieder im Objekt zu sein – für erwachsene Menschen!«
Jahre später hat sie ihre StaSi-Akte eingesehen. »Da stand so ein Unsinn drin!« Sie habe die Notizen mit Lachanfällen gelesen: »Man hat jemanden in der Innenstadt von der Arbeit abgeholt, und es wurde notiert: Das zu beobachtende Subjekt richtete sich an der Passage ein. Solche Belanglosigkeiten!«
Ihren Bruder hat sie 1991 wieder getroffen. Er wurde Grundschullehrer und später von der StaSi abgeworben. Nach dem Niedergang der DDR arbeitete er als Hausmeister und verkaufte Versicherungen.
Sie erklärt: »Mich hat immer gestört, wenn in Bezug auf die DDR – auch vom Westen her – die Opfererzählung bemüht wurde. Ich habe versucht, meinen Weg selbst zu bestimmen, auch wenn mir vom Leben ein Streich gespielt wurde …«
Seit 1981 hat sie Tagebuch geschrieben. Sie hatte den Drang, ihre Beobachtungen und Gefühle aufzuschreiben. In Fahrwasser (1991) veröffentlichte sie Auszüge aus diesen Notizen von 1989/90. Sie sagt: »Damals wollte Reclam eigentlich den Fischer-Band nachdrucken. Aber die Währungsreform war schon im Gespräch, bald würde man überall alles lesen können … Wir planten daher lieber ein originäres Buch.«
Mit der Wende fiel ihre eigene Verwandlung zusammen: 1989 begann die hormonelle Umstellung durch ein West-Rezept einer Leipziger Ärztin. »Durch die Honorare hatte ich Westgeld, das investierte ich in mein Leben!« Die Geschlechtsumwandlung ließ sie in der BRD durchführen, Transsexualität war der Schlüsselbegriff, auf den sie durch eine Buchempfehlung eines Reclam-Mitarbeiters stieß. »Als ich wusste, wie mein Problem hieß, konnte ich nicht mehr warten – ich hatte schon zu viel Zeit im falschen Leben verbracht …« Damals dokumentierte sie auch für ihr Umfeld ihre persönliche Geschichte.
Ihr Fokus liegt immer auf dem sinnlichen Niveau: »Mir ist wichtig, dass man es wahrnehmen kann, dass man die Stimmung mitbekommt. Dann öffnen sich Räume – wenn Literatur so funktioniert, ist es schön!«
Ihre frühen Ambitionen bezeichnet sie als jetzt als »Rubrik gewollt«. Damals war zu viel Kopf dabei. »Heute mache ich tausende Fotos, einfach weil ich zufällig auf etwas stoße. Man muss nur seine Sinne wachhalten. Das Konzept ergibt sich dann durch innere Zusammenhänge.«
Über ihre Leser*innen denkt sie nicht nach. Beim Schreiben wäre das zu hinderlich. »Ich freue mich einfach, wenn es welche gibt! Manchmal kommen ganz schöne Rückmeldungen!« Mit ihren Verlegern spricht sie nicht über Zielgruppen.
Wenn sie ein neues Buch plant, sichtet sie die Texte, die seit der letzten Veröffentlichung entstanden sind – der Boden des Wohnzimmers liegt dann voller Ausdrucke! Dann schaut sie, was einen Zusammenhang bildet, arbeitet eine Dramaturgie heraus. Konzeptionell übernimmt sie vieles selbst, sie möchte ein Manuskript mit Hand und Fuß abgeben: »Wenn sich sehr viel angesammelt hat, muss man schauen, was ein Zentrum bilden könnte. Teilweise fallen auch gute Texte raus, weil sie einfach nicht passen.«
Mit dem Roman ging es nach zwei Seiten nicht weiter. Sie habe zu wenig auf sich vertraut; jetzt schreibt sie mit größerer Offenheit: »Ob genug Substanz da ist, zeigt dann die Entwicklung. Wenn ein kürzerer Text entsteht, ist das ja auch nicht schlecht!«
Im Moment schreibt sie Texte zu Gedichten von Inge Müller. Die Dichterin würde 2025 einhundert Jahre alt werden. »Der Begriff von Schutt hat mich eingefangen. Die Tatsache, dass wir ja alle jeden Tag über Schutt gehen, alles, was unter uns liegt … Wohin hat man all die Trümmer unserer Vergangenheit gebracht? In Leipzig gibt es zum Beispiel einen ganzen Hügel, den man den Scherbelberg nennt …« Als Kind lief sie über die Mülldeponie und sammelte Stanniolpapier. »Mit diesem Papier«, sagt sie, »wurden Süßigkeiten verpackt. Aber man nutzte es auch als Markierung für Bomber …«
Der Blick durch die Linse
Immer wieder gibt es auch figurale Texte. Sie beobachtet, wie eine Person sich in einer Landschaft oder einer Straße bewegt. Dabei hält sie es wie Caspar David Friedrich und zeigt ihre Figur im Kontext vom Rücken her oder seitlich, ohne das Gesicht – so auch auf den Fotos, die das neue Buch illustrieren. Sie sprechen nicht durch ihre Miene, aber durch ihre Körperhaltung.
Ihre Fotoausstellung in der Alten Post mit dem Titel Anwesenheiten zeigt ab 18. September die Landschaft und ihre Überformung, bis hin zu Neubauten, Vorgärten, Grenzräumen und Gewerbegebieten … Dazu Menschen in Rückenansicht und Profil, als Spiegelung oder Torso. Zu sehen sind auch Dinge, die Leute weggeworfen haben oder auf der Straße verloren.
Für die Bilder nutzt sie ihre Handykamera und lässt dann ausdrucken, im Fotokabinett in der Neustadt. Um die Konturenschärfe zu sichern, werden die Motive gemeinsam nachbearbeitet und dann in ein spezielles Hochformat geschnitten. Manchmal gibt es Texte, die Bezug auf die Fotos nehmen, aber im Grunde sind die Bilder eigenständige Werke.
Vielfalt ist ihr auch in der Kunst wichtig. Sie freut sich über den Bäcker in Klotzsche, der Aquarelle malt, und fühlt sich beim Lesen eines Romans (Parade von Rachel Cusk) an einen bekannten bildenden Künstler erinnert: »Der stellt alles auf den Kopf!«
Schon immer gab es Cross-Projekte: Das Poesiealbum wollte sie gemeinsam mit Detlef Schweiger präsentieren, aber die Lesung wurde abgesagt, seine Bilder wie auch ihre Texte waren zu düster und entsprachen nicht der Weltanschauung. Sie sagt: »Das passte nicht zu den Halbwahrheiten einer Ideologie …«
Früher hat sie auch viel gesungen, heute machen ihre Stimmbänder nicht mehr gut mit. »Leider habe ich als Kind nie Klavierspielen gelernt. Unsere Eltern waren der Meinung, Blockflöte müsste reichen …«
Ihre Lebens- und Geistesgefährtin ist Maschinenbauingenieurin. Sie konstruiert Schienenfahrzeuge; der künstlerische Austausch ist trotzdem intensiv: »Sie liest gerne und schätzt meine Sachen.« Gemeinsam besuchen sie Ausstellungen und teilen das Interesse am modernen Tanz – nun schon seit 1995.
In der Stadtvilla im Königswaldviertel steht sie noch immer früh auf. Im Arbeitszimmer der Maisonettewohnung schaltet sie den PC an, macht Notizen im Tagebuch, auch einen Blog betreut sie: Er dient als Werkstatt. Teilweise fährt sie Rad oder geht spazieren, dreht eine Morgenrunde. Schon als Kind hat sie das Radfahren genutzt, um sich aus eigener Kraft zu bewegen; der Weg in die Stadt wurde kurz dadurch.
Im Moment schaltet sie mittags alles ab, bei der Hitze kommen ihr keine Gedanken. Ihre gesundheitliche Situation zwingt sie, die Energien einzuteilen. Teilweise kann sie nicht zu Abendveranstaltungen gehen: »Es geht nicht mehr so viel parallel. Wenn die Nächte nicht mehr erholsam sind, fehlt es auch an Kraft …«
Ihre Arbeit beim Literaturrat wird sie niederlegen. Sie empfindet es aber als positiv, den Staffelstab weiterzureichen: »Es ist gut, wenn mal jemand Neues kommt.« Sechs Jahre wirkte sie im Vorstand mit, als Vorsitzende begleitete sie die Etablierung der Doppelspitze mit den beiden Geschäftsführerinnen Bettina Baltschev und Anja Kösler. Sie empfand das als großen Gewinn.
Jetzt organisiert der Sächsische Literaturrat ihre Geburtstagsfeier im Erich Kästner Haus für Literatur – mit Dichter*innen, die ihr zu Ehren ihre Texte lesen. Wer es sein wird, weiß sie noch nicht: »Bettina fragte mich, ob ich wissen will, wen sie für die Lesung gewinnen konnte. Aber ich lasse mich lieber überraschen!«
Am 11. September feiert Jayne-Ann Igel ihren 70. Geburtstag im Erich Kästner Haus, organisiert vom Sächsischen Literaturrat. Aus ihren Texten lesen Volker Sielaff, Undine Materni, Patrick Wilden, Anna Zepnick und Jan Kuhlbrodt. Zur Veranstaltung
Am 18. September eröffnen Jayne-Ann Igel und Anna Zepnick mit einer musikalischen Doppellesung die Foto-Ausstellung Anwesenheiten von Jayne-Ann Igel. Zur Veranstaltung