Literaturzeitschriften kommen und gehen, und wenige können sich über Jahre behaupten. Zu solchen Raritäten gehört das Ostragehege. Der Name ist Programm. Die Zeitschrift wurzelt in der innerstädtischen Landschaft von Dresden. Zugleich aber geht der Blick weit hinaus in den gesamten literarischen Raum und vor allem nach Osteuropa. Bekannte und weniger bekannte Schriftsteller sind mit Lyrik vertreten, mit Erzählungen, Essays und Romanauszügen. Rezensionen kommen hinzu, Interviews und Porträts bildender Künstler. Das Blatt besitzt ein unverwechselbares Profil und einen glänzenden Ruf: Die Autoren stehen Schlange. Von rund 500 ernstzunehmenden Einsendungen im Jahr erhalten etwa 80 eine Chance. Für Dramatik fehlt der Platz und für Poetry-Slam die Neigung. Subjektivität ist ein Erfolgsgarant jeder Zeitschrift. »Wir sehen uns als Gärtner, die besonders schönen Pflanzen zum Wachsen verhelfen«, sagt Axel Helbig.
Seit 25 Jahren betreibt er das Gärtnereigeschäft gemeinsam mit drei Kolleg*innen und einem Beirat, und das ehrenamtlich. Nun gibt er die Leitung ab. Das Redaktionsteam mit Patrick Wilden, Annett Groh, Aron Koban und Ulf Großmann führt das Ostragehege weiter. Gerade erschien die Nummer 110 mit einem Schwerpunkt zur Schweizer Literatur. Andere Texte befassen sich mit Flucht und Vertreibung. Axel Helbig veröffentlicht dazu ein Interview mit Ulrike Draesner, Dichterin, Romanautorin und Übersetzerin.
Und wie viele solcher Interviews hat er geführt! Helbig unterhielt sich mit Schriftstellern, wie Kurt Drawert, Ingo Schulze, Uwe Kolbe und Jaroslav Rudiš, mit Andreas Reimann, Elke Erb und Franz Hodjak – erst kürzlich erschien der dritte Band seiner Gespräche. Dabei zeigt sich Helbig stets als profunder Kenner des jeweiligen Werkes. Er bereitet hundert Fragen vor und stellt vielleicht zehn. Erzählt von eigenen Lektüre-Eindrücken, liefert Stichwörter zum Weiterdenken und lenkt mit großer Einfühlsamkeit von einer Antwort zur nächsten. Inquisitorisches Nachbohren wird man bei ihm nicht finden. Privates kommt selten zur Sprache. Viel mehr interessiert der Arbeitsprozess des Schreibens, die Ideenfindung, die Figurengestaltung und vor allem die Sprache. Oft gibt eine neue Veröffentlichung den Anlass für ein Interview. Regelmäßig kommen die Gewinner des Chamisso-Preises zu Wort. Doch man findet nicht eine einzige Frage, wie sie Journalist*innen gelegentlich aus dem Stehsatz zaubern: Schreiben Sie lieber morgens als abends, haben Sie ein festes Pensum, brauchen Sie Kaffee als Stimulanz … Nur die Eröffnungen ähneln sich manchmal: Axel Helbig fragt nach prägender Kindheits- und Jugendlektüre.
Für ihn selbst spielten Bücher von Anfang an eine Rolle. So gehört sich das für einen Buchhändlersohn. In der Pubertät schrieb er Gedichte. Auch das verwundert nicht. Das naturwissenschaftliche Studium schon eher. Doch die Zeit fürs Lesen blieb nebenbei immer und blieb auch dann, als Axel Helbig für den Sächsischen Landtag arbeitete. Lebenslängliches Lesen schärft den Blick für die Qualität eines Textes. Der besondere Ton, der eigene Rhythmus, die Exklusivität der Mitteilung, das Verhältnis von Form und Inhalt, von Experiment und Tradition – nach solchen Kriterien beurteilt Axel Helbig die Beiträge, die er für Anthologien auswählte oder für das Ostragehege. Als warnendes Beispiel, sagt er, sei ihm stets André Gide vor Augen gestanden. Dieser hatte als Lektor den ersten Band von Prousts Manuskript Auf der Suche nach der verlorenen Zeit abgelehnt.
Nicht als Wächter, sondern als Ermöglicher und Entdecker sah sich Axel Helbig in all den Jahren. Er sei von einem »unaufdringlichen Enthusiasmus beflügelt«, hieß es beim Fest zum zwanzigsten Geburtstag vom Ostragehege. Es erscheint vierteljährlich und wird herausgegeben vom Verein Literarische Arena e.V. Veranstaltungen begleiten jedes Heft. Bei Dutzenden Lesungen rollte Helbig seinen Gästen den Roten Teppich aus. Mit viel Ausdauer und Geschick gewann er Förderer und Sponsoren. Das Dresdner Kulturamt und die sächsische Kulturstiftung finanzieren das Ostragehege mit. Etwa die Hälfte der Auflage von knapp 500 Exemplaren verkauft sich im Abonnement. Engagierte Buchhändler*innen kümmern sich um die andere Hälfte. Auch dank solcher Verbündeter wurde Axel Helbig eine Institution in der sächsischen Literaturlandschaft. Im Rentenalter wird er das bleiben, wird Artikel schreiben, Lesungen moderieren und Bücher lesen. Und vielleicht seine Autobiografie verfassen? Da winkt er ab. Als ehemaliger Mitarbeiter des Landtags sei er zum Schweigen verpflichtet. Wie schade.
Zum Weiterlesen:
Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Axel Helbig
Axel Helbig im Gespräch mit der Chamissopreisträgerin María Cecilia Barbetta