In der Lange Straße steppt der Bär nicht. Der Pflasterteppich verschluckt die Passage in der Altstadt-Topografie; ein neu gegründeter Second Hand-Laden und die Kaffeerösterei Schmole umrahmen die Schlendermeile für Einkaufsmüde.
Erst wenn man genau hinsieht, vielleicht erst wenn man wiederkommt, spürt man das Erwachen eines kreativen Pulses – vorwiegend bei Dunkelheit, wenn die Reisebüros und Versicherer, Bad- und Brautausstatter schließen; dann gehen die Türen von Kneipen auf, von denen man dachte, sie wären längst aufgegeben.
Ein Casino oder The Cheers offen-baren sich dann; zur Hofnacht öffnet der Queer Treff seine Hintertür: Barock bespitzte Transvestiten winken mit dem Fächer und laden zur Geselligkeit, und auch die Kneipe GeheimRad schallt wider von Livemusik und Gläserklirren. Das ist der Ort, der Pirnaer Schreibenden passend für ihre Kunst erschien: Ein Gewölbekeller, in dem geschmiedet wird, man Gedanken aneinandergeschraubt, bis sie Geister entfachen und Menschen packen, wie ein Studentencafé vor der Revolution – ein Komplott ist im Gange. In Pirna.
Ein Sub-Ort für Subkultur
Wenn man hineintritt, fühlt man neustädtisches Unkompliziert-Flair: Auf der Karte stehen alkoholfreie Cocktails mit Ingredienzen aus Vom Fass, einem Laden in bester Marktplatzlage; dazu Süßkartoffelpommes mit Sour Cream für den langen und würzigen Abend. An das Gewölbe sind Pedale und Sättel geschraubt, auf der Toilette gibt es Tampons und eine Sprayflasche »blumiger Duft« … Tritt man bis in den Garten, sitzt man fast schon im Strandkorb – vielleicht ein Ostalgie-Import aus Warnemünde. Davor wird ein Fahrrad nur noch vom Schloss gehalten; ich stelle mir vor, wie man es aus der Elbe gerettet hat, um dann stolz den Rost zu bewahren. Bilder sind heute Abend wichtig, Vorstellungen und Fantasie; 30 Leute füllen den Raum bis zur Schwelle, sie alle kommen, um zuzuhören.
Der Verstärker ist nur eine kleine Box auf der Theke, eine Bühne gibt es nicht: Wenn jemand vom Mikrofon kommt, rutschen die Akteur*innen einen Platz weiter. Es lesen eine Schülerin, drei Pädagog*innen und eine Theaterfrau; die Fotografin im Team macht noch die Technik – in der Independent-Szene können nur Allrounder bestehen!
Die Akteur*innen des Abends begrüßen ihr Publikum mit Applaus. An den Tischen sitzt eine stolze Großmutter neben Pirnaer Nachwuchsautorinnen, auch die Dresdner Schreibende Annie Lux ist gekommen; sie wird beim nächsten Schreibfestival einen Workshop leiten. Besonderer »Stammgast« ist Helge Goldhahn: Der Schreibkursteilnehmer aus dem Workshop von Katharina Bendixen will bis zur 800-Jahr-Feier in der Stadt 800 Bäume pflanzen. Im letzten Jahr gab es Spatenstich, unter anderem mit literarischem Baumspaziergang: Unter Pappeln und Eschen las der Autor Ralf Günther aus seinem Gartenkünstler.
Selbst Geschriebenes öffentlich vorzutragen, das trieb auch die Autor*innen des Literarischen Komplotts an, als sie sich diesen Namen gaben. Kennengelernt haben sie sich beim Slam-Workshop von Pirna schreibt im September letzten Jahres. Seit Januar dichten und deuten sie nun gemeinsam. Zwei Texte schreibt jeder jeden Monat, das ist ein straffes Pensum.
Ganz normale Künstler
Uwe Delkus ist gelernter Erzieher und war zuletzt in der Alltagsbegleitung aktiv. Er hat sich der Mission des »Öffnens« verschrieben, daher gründete er das Festival Pirna schreibt – vor allen Dingen wollte er aber damit Menschen, die schreiben, kennenlernen. Es ist leicht, mit ihm in Kontakt zu kommen, er begeistert sich für fast alles.
Als Organisator des Festivals hat er jeden Workshop einmal besucht, im Poetry Slam ist er hängengeblieben. »Die Dynamik der Gruppe war mitreißend!« Durch Erfahrungen auf der Bürgerbühne wusste er, wie viel Spaß ihm das Vortragen macht. Freude am Tun ist der Hauptantrieb. Sie lässt die kreative Kraft fließen, sogar wenn man sich Deadlines setzt – zu unserem Treffen kommt Uwe zu spät, sein Text ist beinahe nicht fertig geworden.
Der Autor macht die Not zur Tugend: Vor dem Publikum liest er seine Hommage an den Gedankensprung; immer wieder schweift er ab, das bringt die Menschen zum Lachen. Uwe reflektiert viel, schreibt gern philosophisch, aber auch einfach: lakonischer Humor, sogar Slapstick sind erlaubt. Als nächstes will er sich für ein Stipendium bewerben; im Studium hat er Kafka für sich entdeckt, und die Verblüffung hat ihn nicht losgelassen. Mein Wort des Abends ist Fakenews-Ignorierer: »In Zeiten, wo jeder meint, die richtige Antwort zu haben – wie wär‘s mal mit der richtigen Frage?«
Im zweiten Text beschreibt er Familien mit all ihren Tiefen, er kennt sie aus einer Anschauung. Gesellschaftskritik muss nicht immer subtil geübt werden.
Christian Cornelissen ist Lehrer am Evangelischen Schulzentrum, das eine Grund- und Oberschule umfasst. Dort unterrichtet er Englisch und Biologie. Auf Instagram sieht man ihn meistens schnulzige Songs interpretieren; er hat sich für seine Romane das Pseudonym Chris Nudin zugelegt. Sein Genre ist New Adult, er widmet sich Coming of Age Themen, auch gleichgeschlechtlicher Liebe.
Als er sich für den Schreibworkshop meldete, war ihm nicht klar, dass Poetry Slam auch eine Bühne beinhaltete. Roman Israel unterwies die Neulinge – Pirna schreibt richtet sich explizit nicht nur an fortgeschrittene Schreibende, sondern jeden, der sich Kreativität als Ventil erschließen will.
»Ich hatte noch keine Ahnung davon«, erklärt Christian und denkt zurück an den Abschluss-Slam. Ich erinnere mich an den bebenden Saal im Jugendclub in der alten Feuerwache. Die Dynamiken hat der Autor inzwischen verinnerlicht: Sein Publikum reagiert auf Seitenhiebe gegen die Deutsche Bahn oder seine Schilderung eines Arbeitsverhältnisses mit einem Nerd, der von Big Bang Theory inspiriert ist. Phrasen sind ausdrücklich erlaubt: Klippen werden umschifft, die alten Römer drehen sich im Grab um … Christians Texte entstehen aus Situationen und verirrten Gedanken – »Manchmal wird aus einer einzelnen Zeile eines Textes ein ganz neues Werk!«
In einer zweiten Miniatur drückt er seinen Wunsch nach Slowmotion im Alltag aus: »Ich mache alles!«, heißt es da. »Aber eben später …«
Disziplin und Interdisziplin
Auguste Sandner ist Theaterpädagogin an der Bürgerbühne. Seit 14 Jahren arbeitet sie mit Laiendarstellern; sie sieht es als ihre Berufung an, »Menschen zu helfen, ihre Stimme hörbar zu machen, besonders wenn sie sich nicht trauen!«. Die Leute auf der Bühne trennen Generationen – zwischen 6 und 87 sind sie, auch ein Baby war mal dabei – doch sie verbindet ein Herzensthema: Familie oder ein geliebtes Hobby … die gewöhnlichen Dinge und das Besondere. Auf dem Theaterplatz begleitete Auguste die Aufführung von Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten, einem Peter Handke-Stück. Auch eigene Texte öffentlich zu sehen, ist sie gewohnt, in der Regel ist sie in die Stückentwicklung involviert: Am 1. Juli feiert ihr inklusiver Spielclub Premiere mit Die Wunschbehörde.
Im literarischen Komplott sieht sie sich als die Dramaturgin: Bei der Probe sichtet sie alle Texte und legt die Reihenfolge fest. Anschließend schreibt sie über Aspekte, die dem Abend noch fehlen. Ein wenig sucht sie sich noch selbst dabei.
Pirna kannte sie vor dem Schreibfestival eigentlich gar nicht. Sie arbeitete für Miriam Tscholl im Projekt X-Dörfer und beratschlagte via Zoom mit Uwe Delkus, ob das Team genug Zugkraft entwickeln konnte, um die Stadt zu mobilisieren. Nun schreibt sie zwei Texte monatlich und tritt im GeheimRad auf; nächstes Mal soll auch ihre Tochter mit auf die Bühne: Am 7. Juli will das Team Gastleser einladen.
Thematisch begeistert Auguste sich für alles, nur nicht allzu politische Themen. Aber Gesellschaftliches spricht sie gern an: »Unsere Welt ist zu schnell und zu oberflächlich. Es gibt viel Halbwissen.« Sie wünscht sich weniger Bewertungen. »Wir loben viel zu wenig!«
Wohin sie mit dem Schreiben will, weiß sie nicht. Sie fühlt sich vor allem durch Menschen inspiriert und schreibt auf, was sie erzählen. Ihr Text Parallelwelt schildert eine Innenbetrachtung, alles ist weit weg, hinter einer Scheibe, auch der Ton ist verinnerlicht: »Mein Inneres ist tief wie der Ozean […] Würde ich es wollen, könnte ich verschwinden, in mir. […] Ich weiß, wie es sich anfühlen wird, wenn mein Körper auf den Boden fällt.«
Ihr zweiter Text beschreibt den inneren Kampf beim Schreiben: Fünf verschiedene Stimmen hat sie im Kopf – eine Hommage an die Mitstreiter.
Juliana Socher ist hergezogen. Vor drei Jahren wanderte die selbstständige Fotografin von Dresden aus elbaufwärts. Als Naturmensch wollte sie näher an die Sächsische Schweiz. »Dolce Vita« nennt sie ihr Leben jetzt, sie sprüht vor kreativer Energie. »Wir sind alle sehr unterschiedliche Typen hier, aber das bereichert unsere Runde!«
Auf der Lesebühne fühlt sie sich wohl, die Kurzprosa ist ihre Heimat: »Die öffentliche Reaktion kommt direkt an, auch Flops sind natürlich spürbar.« Auf humoristische Art schildert sie eine »Bestellung beim Universum«, dann schlägt sie einen größeren Bogen und führt eine Geschichte vom letzten Mal fort: Das Publikum kennt schon den Stadtfuchs, dem sie literarisch folgt. Nature Writing hat es ihr angetan: Sie beobachtet das Tier bei Nacht, beim Warten zählt sie die Herzschläge. »Abenteuer beginnen meist, wenn alles still ist!«, liest sie. Durch die Augen des Fuchses begegnet sie einem Kind und einer alten Frau – niemand spricht die Sprache des anderen.
Verständnis und Verständigung
Lara Litton, die Jüngste im Bunde, geht in die neunte Klasse des Schillergymnasiums. Die binationale Schule unterrichtet auch Tschechisch; Lara besuchte ein Ganztagsangebot im kreativen Schreiben – angeboten von Uwe Delkus.
Die Stärke von Slam-Formaten sieht sie in der Modernität: »Tatsächlich hatte ich damals im Workshop mehr junge Leute erwartet!« Sie schreibt viel Lyrik, aber auch Prosa, ihre Texte ordnen sich unter keine bestimmte Gattung – »Ich will vor allem eine Message rüberbringen!«
Oft hat sie angefangene Texte liegen, die sie für die Lesebühne zu Ende schreibt. »Manchmal fühlt sich eine Figur einfach falsch an und dann bricht man erstmal ab. Ich habe sogar schon mehrere meiner Texte gelöscht!«
Ihr Geschriebenes mit dem Publikum zu teilen, empfindet sie als Erfüllung. Sie liest im charakteristischen Slam-Duktus. In ihrem Text Sonne heißt es »Ich bin nicht zu jung, um Liebe zu fühlen! […] Ich sehe nur dich, und du erblindest mich.« Er endet in Dunkelheit.
Danach liest sie ein Gedicht über das Abweichen von der Norm und den Hass, der aus Angst vor dem Anderssein entsteht. Vielleicht ist das ein Thema, das Pirna bewegt. Oder ein Thema, das Menschen bewegt. »Es ist egal, was die Masse sagt. Am Ende des Tages muss du stark sein!«
Lea Kubitz ist in der Ausbildung zur Erzieherin. Aufgrund von ADHS hat sie Inklusionsstatus. Sie sagt: »Das Schreiben ist immer eine Form von Selbsttherapie. Ich verarbeite vieles, was ich denke.« Neben Miniaturen schreibt sie Lieder und spielt Klavier für den Chor ihrer Kirchgemeinde.
Vor fast zehn Jahren erwachte ihre Faszination für Bühnenpoesie mit der Entdeckung von Julia Engelmann – es gab keine Frage, ob der Slam-Workshop für sie das Richtige ist. Beim Schreiben ist ihr der Rhythmus wichtig, ihr Vortragsstil ist melodisch. Ihr Text Hey du ist ein Brief an sie selbst. Er sagt ihr, dass es okay ist, mal einen schlechten Tag zu haben.
In ihrem Instagramkanal liest sie live aus Systemfehler, ihrem Abschlusstext des Schreibfestivals. »Ich komme mir manchmal selber vor wie ein Fehler im System …« Oft ist es das Unwohlsein, das Kunst generiert.
Sechs Autor*innen lesen seit einem halben Jahr das, was sie »abseits des Systems« stellt – und das Publikum findet sich wieder. Hier stellt sich nicht die Frage, ob Computer einst Schriftsteller*innen ersetzen. Perspektivisch sollen häufiger Gastleser geladen werden. Für den 7. Juli hat sich unter anderem Hans-Haiko Seifert angekündigt. Der Dresdner Autor gewann 2017 den Nachwuchspreis DRESDNER Miniaturen. Vielleicht reichen nächstes Mal Pirnaer ein – an verrückten Ideen fehlt es ja nicht. Bis dahin werden weiter die Räder geölt.
Die nächsten Termine im GeheimRad Pirna, Lange Straße 15:
7. Juli 19:30 | 1. September 19:30 | 13. Oktober 19:30
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