Sylvia Kindelberger, Foto: Frank Buttenbender
02.09.2023
Literaturnetz Dresden

Menschen hinterm Buch: Die Bibliotheks-Lektorin

Sylvia Kindelberger behält den Marktüberblick für alle Filialen

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Vollzeitjob oder Ehrenamt – Literatur ist Berufung! Buchbotschafter*innen setzen sich für das gedruckte Wort ein und verbinden Menschen mit Literatur, auf originellen Wegen … Wir sprechen mit leidenschaftlichen Leser*innen über Idealismus, Herausforderungen und Kraftquellen.

»Man sortiert nicht nur Bücher«, sagt Sylvia Kindelberger und erklärt, warum ihr Beruf im Wandel ist. Im nächsten Jahr blickt sie auf 20 Jahre Erfahrung als Lektorin für die Städtischen Bibliotheken; dabei geht es nicht nur ums Bücher bestellen, sondern auch darum, ein Gespür für Menschen zu entwickeln.

Sylvia, du hast vier Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit für die Städtischen Bibliotheken geleitet und führst immer noch Veranstaltungen durch. Wo liegen aktuell deine Aufgaben?

In anderen Bibliotheken nennt man die Funktion der Lektorin auch Fachreferentin. Es gibt in allen Bibliotheken insgesamt 5 Lektorinnen, die die Bibliothekar*innen mit neuem Wissen versorgen. Ich decke die Gebiete Literatur und Sprache ab, das heißt die komplette Belletristik für Erwachsene, Belletristik für Jugendliche mit dem Comic-Bereich, außerdem Literatur- und Sprachwissenschaft. Dabei bin ich nicht einer Bibliothek oder einem konkreten Team zugeordnet, sondern schaue für alle 20 Filialen nach Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt. Alle 2 Wochen führe ich Beratungen zum Medienkauf durch, der dann vom Bestelldienst ausgeführt wird. Was ich an die Bibliotheken empfehle, muss teilweise schnell bestellt werden, gerade in der Belletristik wollen die Nutzer*innen die Neuerscheinungen pünktlich lesen. Schnell auf den Markt zu reagieren ist ein Qualitätskriterium.

Was hat dazu beigetragen, dich als Lektorin zu bewerben? Wusstest du, wie das Feld aussehen würde?

Tatsächlich hat sich einmal eine Autorin mit ihrem Manuskript an mich gewendet, weil sie in mir eine klassische Lektorin sah … Ich habe ihr dann empfohlen, den Notschriften Verlag zu kontaktieren – am Ende wurde sie veröffentlicht!

Die Entscheidung, die Öffentlichkeitsarbeit offiziell abzugeben, kam mit meinen Kindern. Ich konnte die Stelle nicht mehr mit der nötigen Präsenz füllen. So habe ich mich 2004 umorientiert. Das Aufgabengebiet ist vielschichtig; ich mag Sprachen, und dort kamen aufgrund der Migration viele neue dazu. Im Hintergrund der Bibliothek gibt es außerdem viele Arbeitsgruppen, wie die für Neue Medien oder Kinder- und Jugendarbeit. Ich bin da zum Beispiel in der Integration tätig.

Ein anderer wichtiger Bereich ist der Komplex: Wie kommen die Bücher wieder aus dem Regal raus, das heißt, werden sie auch ausgeliehen? Uns darum zu kümmern, dass Menschen die Neuerscheinungen wahrnehmen, ist eine spannende Herausforderung.

Und wie schafft man das?

Ich gebe zum Beispiel Empfehlungen an unser Veranstaltungsmanagement und unterstütze auch in der Vorbereitung von Lesungen. Autor*innen zu betreuen und zu moderieren, Menschen für die Themen und Werke zu begeistern, ist für mich besonders schön. Zuletzt war ich beim Comicfest sehr aktiv.

Du bist als diplomierte Bibliothekarin nach Dresden gekommen, man kann den Beruf aber auch lernen. Wie kann ein akademischer Hintergrund deine Aufgaben unterstützen?

Ich habe da tatsächlich verschiedene Einblicke. Ursprünglich wollte ich Naturwissenschaften studieren, aber dann entschied ich mich um. In der Bibliothek in Halle arbeitete ich anfangs ganz ungelernt, dann machte ich Praktika, beispielsweise in Bibliotheken in England. Zu DDR-Zeiten war der Studiengang der Bibliothekswissenschaften nicht so einfach zu bekommen, ich begann erst 1989 an der HTWK Leipzig. Nach Dresden hat mich dann der Zufall verschlagen, der Zeitpunkt war aber genau richtig: Damals wurde die Buchung gerade auf Computer umgestellt. Konkret für diese Aufgabe wurden Leute gesucht; in der Bibliothek Neustadt – damals noch in der Bautzener Straße – gab es das erste Team Digital. Das alte System war im Grunde auch längst antiquiert: Fotoverbuchung mit Lochkarten … In England war man da viel moderner!

Generell unterstützt der akademische Ansatz natürlich das Intellektuelle an der Tätigkeit. Aber ein Studium gibt auch immer Gelegenheit zur Entwicklung. Der Beruf ist allgemein sehr im Wandel. Man sortiert dort ja nicht mehr nur Bücher …

Was waren prägende Veränderungen der Jahre?

1989 öffnete sich der Buchmarkt, die Grenzen des DDR-Markts wurden gesprengt. Neben dem Reisen und dem Konsum von Zeitschriften verlor die Literatur zeitweise an Bedeutung – in der DDR hat man ja auch darum Klassiker gelesen, weil es nichts anderes gab. Wir führten damals viele Aktionen in der alten Jugendbibliothek durch, beispielsweise Verlagsabende, um die Programme kennenzulernen und das Netzwerk zu stärken. Wir organisierten als eine der ersten Institutionen in Deutschland eine Lesung mit Jostein Gaarder aus Sophies Welt. Das war eine aufregende Zeit.

Inzwischen sind drei der großen Filialen in neue Häuser gezogen: Die Neustädter Bibliothek, aber vor allem auch die ehemalige Medien@age aus der Prager Straße und die Hauptbibliothek aus dem World Trade Center. Bist du zufrieden mit dem neuen Standort?

Ja, sehr. Wir werden mit unserem Angebot im Kulturpalast viel besser wahrgenommen. Die alte Bibliothek platzte aus allen Nähten, sie brauchte dringend eine neue Struktur. Wir waren 20 Jahre lang im WTC, bevor wir 2017 richtig ins Zentrum ziehen konnten. Diese öffentliche Präsenz macht auch den Kulturpalast den ganzen Tag nutzbar: Jede*r kann einfach reingehen, lesen, spielen oder Instrumente ausprobieren. So soll das doch sein.

Und es ist ja auch immer voll …

Es ist immer voll! Zusätzlich gehen die Ausleihzahlen in der E-Bibliothek durch die Decke … Wir sind aber nicht nur eine Ausleihstation: Ungefähr ab 10 Uhr beginnt jeden Tag ein Run auf die Arbeitsplätze, manche bleiben bis 19 Uhr belegt. Daneben werden Gruppenarbeitsräume genutzt. Generell sind alle Angebote sehr gut gefragt. Für die Politik sind hohe Besucher- und Anmeldezahlen aber auch wichtig. Glücklicherweise ist die Stadtbibliothek bei den Bürger*innen sehr akzeptiert.

Wie stark war da die Coronakrise zu spüren?

Es gibt einen klaren Zusammenhang von Präsenz und Nutzung: Je aktiver man ist, desto mehr bringt man sich natürlich ins Gedächtnis. Fallen Veranstaltungen aus und ist der Besuch nicht mehr möglich, gehen Ausleihen und Neuanmeldungen rapide zurück. Auch wenn mit kreativen Ansätzen viel versucht wurde, um den Zugang zu erhalten. Die Bibliothek muss sich für Ausgaben jederzeit rechtfertigen; wenn wir besondere Medien erwerben, die wir individuell aussuchen, müssen wir das untermauern. Ohne Zahlen geht es da nicht. Natürlich sind die Leser*innen durch die Verfügbarkeit ihrer 20 Bibliotheken auch verwöhnt …

Wie kann man das verstehen?

Unsere Arbeit ist nur gut, wenn unsere Nutzer*innen zufrieden sind. Wir haben uns hohe Standards gesetzt und die gilt es zu halten und weiter zu entwickeln. Dadurch entsteht auch Zeitknappheit. Durch immer wieder neue Themen arbeiten wir sehr leistungsorientiert in unseren Projekten – inzwischen mache ich 30% mehr Stunden als vor ein paar Jahren. Es ist wichtig, den Bibliotheken viel anzubieten, damit sie auch selbst auswählen können. Die unterschiedlichen Standorte kennen ihr individuelles Publikum einfach besser.

Was gibt dir im Alltag Kraft?

Ich schätze die Gespräche mit dem Publikum. Wenn Menschen bei Lesungen Fragen stellen und dann glücklich nach Hause gehen, macht mich das auch zufrieden. Bei Veranstaltungen volle Säle zu erreichen, ist großartig, aber in Dresden überhaupt nicht einfach. Dabei ist mir auch wichtig, nicht nur Mainstreamthemen abzuhandeln; wenn man den Menschen etwas nahegebracht hat, was sie nicht kannten – das Debüt einer jungen Autorin beispielsweise –, hat man auch als Team viel erreicht. Die Leute wollen zu Neuem angeregt werden!

Ein neues Feld der Kulturvermittlung ist die Bibliothek der Dinge …

Auch da habe ich ein bisschen mitgearbeitet. In der Gruppe gab es gutes Teamwork: Wir mussten uns ansehen, wie das eigentlich funktioniert – was kann man überhaupt entleihen und was machen wir bei Schäden? Es gibt jetzt Musikinstrumente zum Ausprobieren, was einem liegt, auch Kisten für Geburtstage sind sehr beliebt. Aber die Pflege, also der ganze Rückgabeprozess, ist aufwendig. Man muss hier hervorheben, dass die Nutzer*innen sehr diszipliniert sind!

Was sind die nächsten Projekte?

Im nächsten Jahr gibt es das große Kästnerjubiläum, wo wir in Kooperationen beteiligt sind: Veranstaltungen mit Musik, zum Thema Nachhaltigkeit oder im Rahmen der interkulturellen Tage … Natürlich auch mit dem Erich Kästner Haus!

Das fällt sozusagen mit deinem eigenen Jubiläum auf der Stelle zusammen …

Der Vorteil der langen Erfahrung ist, dass man viel schneller Entscheidungen trifft. Ein Überblick über Literatur kann nur mit den Jahren wachsen. Ich habe ja auch nur 24 Stunden am Tag und kann nicht mehr lesen als andere.

Man schafft es aber noch zu lesen?

Da ich aus Halle komme, war ich schon immer auf der Leipziger Buchmesse, schon als Kind. So ein Überblick hilft, Dinge einzusortieren. Mit der Zeit habe ich verschiedene Arten zu lesen entwickelt: Zum Beispiel das Anlesen, um eine Veranstaltung zu konzipieren. Wenn die Lesung näher rückt, beschäftige ich mich aber zum Teil vorab mehrere Abende mit einem Buch oder nehme eine Kiste mit in den Urlaub.

Welchen Lesetipp würdest du uns gern mitgeben?

Begeistert hat mich gerade Sibir von Sabrina Janesch. Darin spürt eine Tochter der Geschichte ihres Vaters nach: Mit 10 Jahren wurde er nach Sibirien deportiert, weil er mit seinen Eltern im polnischen Gebiet lebte. Die Protagonistin versucht, dieses Trauma zu verstehen, um ihr eigenes Leben besser zu bestreiten. In der Biografie des Vaters ändert sich die Staatszugehörigkeit insgesamt dreimal! Mir gefällt in dem Buch die Grundaussage: Bevor man jemanden in Nationalitäten einteilt, ist das Wichtigste die Menschlichkeit.

 

Das Gespräch führte Josefine Gottwald

Veranstaltungshinweis: Zum Thema der Kriegstraumata, die in Familien wirken, gibt es im nächsten Jahr auch eine Veranstaltungsreihe in Kooperation mit der SLUB: Ab Januar 2024 finden 4 Lesungen statt, beispielsweise mit Ulrike Draesner und Nino Haratischwili, teilweise mit musikalischer Begleitung durch die Philharmonie. Gefördert wird die Reihe von der Friedrich Ebert Stiftung.

 

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